Wie ist dein Verhältnis zu Wut? (Podcast #17)

Ich starte in diesen Podcast gleich mal mit einer sehr spannenden Frage:

Wie ist dein Verhältnis zu Wut?

Komische Frage wirst du jetzt vielleicht denken, aber nimm dir ein bisschen Zeit diese Frage mal ein bisschen in deinem Hirn kreisen zu lassen und nachzuforschen. Ich persönlich liebe diese Frage, eröffnet sie doch eine komplett neue Perspektive auf diese vielen so unliebsame Emotion.

Denn leider hat Wut kein gutes Image und das mag ich mit diesem Podcast ein bisschen ändern. Mittlerweile mag ich Wut – sowohl bei mir als auch bei meinen Klienten. Und vielleicht gelingt es mir ja mit diesem Podcast deine Neugier für diese Energie zumindest ein bisschen zu wecken.

Wie ist dein Verhältnis zu Wut?

Hast du überhaupt ein Verhältnis zu Wut … zu deiner Wut? Oder könnte der Satz: „Ich bin nicht wütend. Das kenn ich nicht von mir.“ von dir stammen? Und wenn du kaum ein Verhältnis zu Wut hast, hast du eine Idee, warum das so ist?

Hier macht es Sinn den Blick auf die eigene Familie zu werfen. Denn wie hier mit dieser kraftvollen Energie umgegangen wurde, prägt uns. Und zwar mehr als viele wissen.

Also hier gleich mal die nächste spannende Forschungsfrage:

Wie wurde in deiner Familie mit Wut umgegangen?

Und ich meine wirklich: wurde mit ihr umgegangen? Oder wurde sie bewertet oder unterdrückt? War sie unschicklich oder ein Zeichen von schlechtem Benehmen oder von sich nicht im Griff haben?

Oder ging es bei euch eher laut und poltrig zu und du hast für dich entschieden, SO will ich nicht sein … so will ich nicht werden?

Bei mir Zuhause wurde gar nicht mit Wut umgegangen. Man wurde einfach stehen gelassen. Und es wurde erst wieder Kontakt erlaubt, wenn man wieder brav war. Und so ist in mir von klein an eine blöde Kombination entstanden: nämlich die Kombi aus Wut, Hilflosigkeit und Sinnlosigkeit. Und so war ich viele Jahre überwiegend innerlich wütend und um meine Hilflosigkeit zu überspielen, ich war im Außen bockig … pampig … leicht reizbar und jähzornig. Und ich war für jeden Trigger unbewusst dankbar an dem ich zumindest ein bisschen meiner ganzen gestauten Ladung abreagieren konnte.

Und wie so eine für alle unangenehme Mischung entstehen kann, darum geht es mir jetzt. Denn was viele nicht wissen: Wut ist erst die 3. Stufe dieser kraftvollen Energie. Was meine ich damit?

Die 1. Stufe: Protest

Wenn uns etwas gegen den Strich geht, ist die 1. natürliche Stufe Protest … nicht Wut.

Ein Baby, dass die Windel voll und den Magen leer hat, protestiert erst einmal. Ja, bei den Zwergen ist der Grad zwischen Protest und Wut aus vielerlei Gründen sehr sehr schmal, aber auch ein Säugling jammert erst einmal. Vielleicht drückt er durch Bewegungen sein Unbehagen aus, vielleicht durch Mimik, vielleicht durch ein Quäken … Eingestimmte, fürsorgliche Eltern können mit der Zeit die Zeichen deuten und reagieren angemessen. Ist die Windel leer und der Bauch voll, ebbt der Protest wieder ab und das Nervensystem des Säuglings klettert die Leiter nicht weiter hoch. Das Baby beruhigt sich.

Die 2. Stufe: Ärger

Bleibt die angemessene Reaktion auf den gesunden Protest – aus welchen Gründen auch immer – jedoch aus, zündet der Säugling die 2. Stufe: er wird ärgerlich. Die Bewegungen werden zackiger und kraftvoller … der Ton lauter und eindringlicher … und die Mimik deutlicher … die ersten Tränen kullern.

Auch hier gilt: erfolgt nun eine angemessene Reaktion … ist also dann halt jetzt erst die Windel leer und der Bauch voll, bleibt es auch hier beim Ärger und das Nervensystem des Säuglings beruhigt sich wieder. Es dauert zwar ein wenig länger als bei Stufe 1, aber wenn die Windel und der Bauch wirklich das Problem waren, steht dem Weg in die gemeinsame Entspannung kaum noch etwas im Wege.

Bleibt die angemessene Reaktion auf den gesunden Ärger – aus welchen Gründen auch immer – jedoch aus, zündet der Säugling die 3. Stufe: jetzt wird er wütend.

Wut ist erst die 3. Stufe

Was bedeutet: Niemand wird von jetzt auf gleich wütend. Er oder sie hat vorher … zumeist unbewusst … bereits die 2 Phasen von gesundem Protest und Ärger durchlaufen. Und das überhaupt nicht bewusst mitbekommen.

Und so fühlt es sich meistens an, als ob wir von jetzt auf gleich hochschießen wie das berühmte HB-Männchen und je nachdem wie leicht einem Wut zugängig ist und wie sehr man zum Ausagieren neigt, ziehen alle in der Umgebung dann nur noch reflexartig den Kopf ein. Und hoffen, dass der Sturm zügig vorbeizieht. Und der oder die Wütende hat das Gefühl, nichts gegen diesen Sturm tun zu können … ihm – wie die Umgebung – ausgeliefert zu sein. Dann erlebt man Wut als etwas, das passiert. Und das ist halt nicht so. Daher macht das Dekonstruieren, also das eine Szene in Zeitlupe betrachten, so viel Sinn. Denn dann kann man gemeinsam die Zeichen der Stufe 1 und der Stufe 2 wieder entdecken und wieder erkennen lernen.

Neigt man mit seiner Wut eher zum Einagieren, werden Zähne zusammengebissen, Luft angehalten oder es wird der Raum verlassen um das Magengeschwür woanders zu bekommen.

Die 4. Stufe: Rage

Die 4. Ausbaustufe erreichen die wenigsten: die Rage. Und hier gibt es sogar die Bezeichnung einer mörderischen Rage, was dann die 5. Stufe wäre. Um diese 4. und 5. Stufe zu erreichen, muss vorher schon eine Menge passiert sein. Hier stimmt der Spruch „Was lange gährt, wird schließlich Wut.“ Und von Stufe 5 lesen wir dann in der Zeitung.

Hätten wir nicht alle in der ein oder anderen Form gelernt, hätten wir nicht alle lernen müssen unsere Wut zu unterdrücken, hätten die Stufe 4 und 5 kaum eine Chance. Schließlich hat sich die Natur die auch nur für den Notfall gedacht. Also nur für Situationen wo wir wirklich mit dem Rücken an der Wand stehen und alle Kraft brauchen um um unser Überleben kämpfen zu können.

Ein kleiner Hinweis in Richtung Trauma

Ein Mensch mit einem traumatisierten Nervensystem fühlt sich irgendwie immer wie mit dem Rücken an der Wand. Und so ist es nicht verwunderlich und gehört zur Natur von Trauma, dass Trauma Menschen leicht reizbar und jähzornig macht. Diese Menschen haben kaum Zugang zu der kraftvollen, ruhigen, geerdeten Energie die in gesundem Protest liegt. Ihr Nervensystem hat keinen Zugang mehr zu Stufe 1 und Stufe 2 und landet gleich im Ein- oder Ausagieren-Strudel.

Daher ist auch nur eine Traumatherapie, die das Nervensystem einbezieht und entlastet, nachhaltig wirksam.

Hätten wir lernen dürfen wie man mit dieser kraftvollen Energie gut umgehen und sie gut lenken kann, wäre unsere Welt ein durchweg friedlicher Ort. Und daher ist es mir so wichtig, für diese im Kern so gesunde Energie heute den Stab zu brechen.

Wann wird ein Löwe wütend?

Und dafür mag ich gerade mal einen kleinen Abstecher ins Tierreich machen.

Du hast doch sicherlich schon mal in einer Tierdokumentation ein Löwenrudel gesehen. Frag dich gerade einmal kurz selbst: was würdest du sagen … wann wird ein Löwe wütend? Was muss passieren, damit dieses Raubtier seinen im Schatten eines Baumes dösenden Schlaf unterbricht und in Wallung kommt?

Es gibt eigentlich nur 3 Gründe: ein Rivale will an seine Löwinnen, man stört seine Ruhe oder er hat Hunger.

Was das sehr gut zeigt: Aggression hat im Kern immer eine Intention, diese kraftvolle Energie dient immer einer Absicht. Und meistens geht es dabei um Schutz und ums Überleben.

Denn kein Löwe würde, nur weil er grad wütend ist, in freier Wildbahn z. B. gegen einen Stein treten. Das wäre sinnlose Energieverschwendung. So ein Ausagieren gibt es in der Natur nicht. Und ein Löwe in der Steppe kann seine Instinktnatur leben.

Wir gut erzogenen Menschen können das nicht mehr.

Denn wir alle haben sehr früh und sehr schnell gelernt, wie wir unseren Protest, unseren Ärger, unsere Wut so dosieren, dass wir von unserer Umgebung doch irgendwie das bekommen, was wir gerade brauchen. Wir alle haben dabei gelernt, uns in unterschiedlichem Maß anzupassen.

Und haben wir gelernt, dass unser Protest nicht gehört … so nicht wirklich wahr- und ernst genommen wird … verblasen die Zeichen der Stufe 1 und 2 in uns und wir starten scheinbar gleich mit Ein- oder Ausagieren. Aber eben nur scheinbar.

Denn da gibt es heute immer noch Anzeichen von gesundem Protest. Da ist der Impuls, was zu sagen … da ist der Impuls sich zu wehren … da ist der Impulse etwas zu wollen. Diese Impulse sind alle da. Nur haben wir eben gelernt sie zu überhören. Denn auch unsere Umgebung hat sie überhört. Hat uns nicht gehört.

Also haben wir entweder gelernt, erst wenn wir gleich lospoltern, nimmt man uns wahr. Oder wir haben gelernt nie was zu sagen, denn es hat ja eh keinen Sinn.

Staut sich diese Energie in uns, hat das, was dann irgendwann einmal aus uns herausbricht wenig bis gar nichts mit der kraftvollen, ruhigen, geerdeten Energie die in gesundem Protest liegt, zu tun. Dann reagieren wir unangemessen, schießen mit Kanonen auf Spatzen … und müssen uns hinterher entschuldigen. Und spätestens dann kommt auch noch Scham dazu.

Wenn ich mir mit meinem Klienten ihr Verhältnis zu ihrer Wut anschaue, folgt der Eingangsfrage eine nicht minder spannende Frage:

Wenn die Energie so dürfte und könnte, wie sie eigentlich will, was würde sie dann tun?

Und ich spreche hier immer sehr bewusst nicht von Wut, sondern von einer Energie. Alleine diese Umformulierung ergänzt um das Beispiel vom Löwen ermöglicht es meinen Klienten, das bisher Undenkbare zu denken.

Probier es doch gerade mal kurz selber aus: spür mal nach, wie sich das Wort Wut in dir anfühlt … und dann spür mal nach wie sich das Wort Energie anfühlt. Schon erstaunlich, wie man nur durch ein anderes Wort die gleiche Sache komplett anders erleben kann, oder?

Denn wir alle tragen noch so einen inneren moralischen Bremsklotz rund ums Thema Wut mit uns rum: wir meinen, der Gedanke sei schon die Tat. Und so unterdrücken wir nicht nur die Energie, sondern schon bereits den Gedanken. Wir bremsen also doppelt. Und durch meinen kleinen Trick überliste ich mit der Frage nach der Energie ein paar dieser alten inneren Bremsklötze und meine Klienten können das Undenkbare nun denken.

Zumeist erst einmal zögerlich und vorsichtig, aber da ich komplett wertfrei lausche, werden meine Klienten vorsichtig mutig und endlich bekommt die Wut wieder Worte … findet endlich wieder einen Ausdruck. Und wird endlich gehört.

Kleiner Einschub am Rande …

… bevor sich an dieser Stelle jemand meint aufregen zu müssen: die Einladung mir zu erzählen, was die Energie tun würde wenn alles erlaubt wäre, mache ich nur bei Klienten von denen ich weiß, dass sie eine gute Affektkontrolle haben. Bei einem Klienten der oder die eh zum ausagieren neigt, käme diese Frage niemals über meine Lippen. Denn hier könnte es sein, dass diese Frage eine Tür weiter öffnet, die eh schon nur locker in den Angeln hängt und so etwas ist zu keiner Zeit die Intention der Neuroaffektiven Arbeit.

Affektkontrolle

Aber zurück zu der Wirkung der Frage auf meine Klienten mit guter Affektkontrolle: kaum darf die Energie bewusst wahrgenommen und in Worte gefasst werden, passiert etwas scheinbar Paradoxes: meine Klienten werden innerlich ruhiger. Selbst die, die noch kurz zuvor … kurz davor waren vor Wut zu platzen.

Denn das ist das faszinierende an der Neuroaffektiven Arbeit und der Schlüssel liegt in der Qualität meines Zuhörens: Ich weiß um die Stufen dieser Energie und mich erschreckt Wut oder gar Rage nicht. Ich achte auf die Momente, wo der gesunde Protest durchschimmert … wo es ruhig, klar und kraftvoll ist … wo meine Klienten in Kontakt sind mit einem unaufgeregten Nein … oder einem deutlichen Ich will. Und hier verlangsame ich dann. Das Poltern lasse ich einfach da sein. Denn weder im Aus-, noch im Einagieren kann es besser werden. Das sind nur die alten Strategien, die gerade wiederholt werden. Und aus etwas, das wir wiederholen, also schon können, kann nichts Neues entstehen.

Etwas Neues kann entstehen

Trifft aber der gesunde Protest heute auf eine wertfreies, zugewandtes Gegenüber kann etwas Neues entstehen. Denn das gab es damals nicht. Die Erfahrung ist neu. Und was dann passiert … Nun, das ist individuell. Und sehr berührend. Denn wenn die leisen Töne wieder gehört werden dürfen … wenn die Kraft Wirkung haben darf … wenn die Energie wieder fließen darf … findet Heilung statt und wir erleben tiefen inneren Frieden.

Nun hoffe ich, ich konnte deine Neugier auf diese kraftvolle Energie … auf deinen gesunden Protest wecken. Sollte mir das gelungen sein, such doch nach einem Neuroaffektiven Therapeuten in deiner Nähe und forsche mit ihm oder ihr wie dein Verhältnis zu Wut heute ist. Ich kann dir aus eigener Erfahrung versprechen: diese Forschungsreise lohnt sich. 

Inhalts­verzeichnis