Trauma-Basics: Der Ablauf einer Bedrohungsreaktion (Podcast #9)

In Podcast Nr. 8 habe ich anhand eines Beispiels beschrieben, wie ein Vater seine kleine Tochter, die gerade übel gestürzt war, ruhig und eingestimmt beruhigt hat. Du musst diesen Podcast nicht gehört haben, um diesem hier weiter lauschen zu können. Es reicht zu wissen, dass das Kind bös hingefallen war, sich sehr weh getan hat und dann weinend zum Papa kam, der es vorbildlich getröstet hat.

Top Down- und Bottom Up-Prozesse im Nervensystem

Was damals für mich so berührend und für die anderen an unserem Tisch so überraschend war: ich konnte jede kommende Welle vorhersagen, denn es war wirklich lehrbuchmäßig wie Vater und Tochter hier interagiert haben. Und ich hatte mein Nervensystem ein bisschen in den Prozess am Nachbartisch eingeklinkt, da die Situation meine Neugier geweckt hatte. Und so konnte ich bei den Top Down- und Bottom Up-Prozesse im Nervensystem des Kindes mitgehen. Und unseren Mitessern am Tisch beschreiben, was da am Nachbartisch gerade so spannendes und kostbares passierte.

Und nein, ich habe nicht gelauscht. Ich habe nur meine Gabe, nämlich über ein sehr durchlässiges Nervensystem zu verfügen bewusst genutzt, um mein persönliches Verständnis einer gelernten Theorie zu vertiefen.

Solltest Du gerade über die Begriffe Top Down und Bottom up ein bisschen bestolpert sein: In Podcast Nr. 10 werde ich sie ausführlicher erklären. Für heute nur so viel:

Top Down und Bottom up beschreibt, wie der Informationsfluss von oben nach unten (top-down) wie auch von unten noch oben (bottom-up) im Körper abspielt.

Der Begriff Top-Down bezieht sich darauf, wie kognitive Strukturen des Gehirns sich auf die emotionalen und instinktiven Systeme des Körpers auswirken. Der Begriff Bottom-up bezeichnet, wie die Regulierung im Nervensystem sich auf Kognitionen auswirkt.

Dazu wie gesagt mehr in Podcast Nr. 10. Denn diese in jedem Moment unseres Lebens in uns ablaufenden Prozesse bewusster mitzubekommen und dann auch noch besser verstehen zu können, ist ein großer Schritt in Richtung persönliche Freiheit.

Der Ablauf einer Bedrohungsreaktion

Für heute bleibe ich bei den im Nervensystem ablaufen Zyklen und hier speziell bei dem Ablauf einer Bedrohungsreaktion. Und ich erkläre dir, wie du dieses Wissen in deinem Alltag nutzen kannst.

Du kannst dir diesen Ablauf gleich hier kosten.frei downloaden …

Oder du nimmst dir gerade Zettel und Stift zur Hand und zeichnest mit, wenn ich jetzt im ersten Schritt im Schnelldurchlauf durch die 6 Stadien des Kreislaufs gehe.

Hier also die 6 Stadien des Ablaufs einer Bedrohungsreaktion:

  1. Innehalten
  2. Erschrecken
  3. Defensive Orientierung
  4. Spezielle Verteidigung
  5. Vervollständigung
  6. Explorative Orientierung

INNEHALTEN

Wenn wir etwas Ungewohntes bemerken, halten wir inne, stutzen und scannen die äußere Umgebung sehr bewusst. Wir schauen uns um und überprüfen mit all unseren Sinnen, ob der Reiz eine Bedrohung darstellt oder nicht.

ERSCHRECKEN

Das kann fast zeitgleich mit der Reaktion des Innehaltens geschehen. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied: die sympathische Erregung beim Erschrecken ist höher und es wird bereits mit Vorbereitungen für entsprechendes Handeln begonnen. Dies beinhaltet die Mobilisierung der chemischen und physischen Ressourcen, die für die Reaktion benötigt werden.

Kleiner Einschub: Das „Sympatisch“ in Sympatische Erregung hat nichts mit nett zu tun. Sympatisch bezieht sich hier auf den Sympatikus, also das Gaspedal unseres Nervensystems. Sein Gegenspieler ist der Parasympatikus, den man auch das Bremspedal des Nervensystems nennt.

DEFENSIVE ORIENTIERUNG

Und ab jetzt wird es wichtig, hier genauer hinzuschauen. Denn um den Wechsel von der Defensiven in die explorative oder erkundende Orientierung geht es mir heute im Besonderen.

Defensive Orientierung bedeutet, die Bedrohungsgefahr wird als hoch eingestuft; die Orientierung erfolgt nun im Zusammenhang mit der spezifischen Bedrohung und dem Bedürfnis nach einer genaueren Einschätzung dieser Bedrohung. Der Aktivierungsgrad liegt normalerweise bei mittel bis hoch.

SPEZIELLE VERTEIDIGUNG

Damit ist Flucht, Angriff oder Erstarren gemeint. Hier gehe ich für den Moment nicht tiefer drauf ein, komme aber gleich noch mal drauf zurück.

VERVOLLSTÄNDIGUNG

Ist die Bedrohung vorbei, kehrt das System mithilfe der in uns angelegten Selbstregulierungsprozesse wieder in den Ruhezustand zurück. Erfordert die Bedrohung jedoch eine aktive Verteidigung, dann führt die Kampf-, Flucht- oder Erstarrungssequenz zur Entladung der hohen Aktivierung und die Physiologie kehrt erst danach mithilfe des normalen Wiederherstellungsprozesses zum natürlichen Gleichgewicht zurück.

EXPLORATIVE ODER ERKUNDENDE ORIENTIERUNGSREAKTION

In dieser Phase sind wir in entspannter Wachsamkeit gegenüber dem inneren wie auch dem äußeren Umfeld. Neugierig und offen sammeln wir Informationen über die Umwelt mit spürbar geringem Aktivierungsgrad.

Das waren jetzt die 6 Phasen und du kannst die PDFs dazu wie gesagt hier downloaden …

Das in Podcast Nr. 8 ausführliche beschriebene Szenario – also das Kind, das bös gestürzt war und von seinem Vater so berührend beruhigt wurde – spiegelt den gesunden Ablauf dieses Zyklus wieder.

Der Sympatikus, also das Gaspedal des Nervensystems, war durch den Sturz hochgradig aktiviert.

Durch die Flucht zum Vater und dessen Beruhigung konnten die Selbstregulierungsprozesse des Kindes stattfinden, das Nervensystem des Kindes konnte zum natürlichen Gleichgewicht zurückfinden, das Kind konnte sich beruhigen und schließlich wieder weiterspielen.

Besonders wichtig sind hier die Schritte 4-6

Also der Übergang von der defensiven Orientierung über die Vervollständigung hin zur explorativen, erkundenden Orientierung. Warum?

Weil wir diese 3 Schritte viel zu selten auf dem Schirm haben und viel zu wenig darüber wissen. Und als Folge nicht so auf sie achten, wie es notwendig – also Not abwendend – wäre.

Nach dem Erschrecken kommt nämlich meistens „War ja nix.“ … „War ja nicht so schlimm.“, „Ist ja schon wieder gut.“ oder „Was du dich immer anstellst!“

Und solche Sätze ersticken die vielleicht eben noch dagewesenen Kampf- oder Fluchtimpulse.

Was bedeutet: wir bleiben hier … an dieser Stelle … im Zyklus stecken.

Nimm dir hier gerade mal einen Moment Zeit und spür dich hier kurz ein. Wie fühlt sich die Vorstellung an in dieser Phase so intensiven unterbrochen zu werden? Da war gerade ein heftiges Erschrecken, das Gaspedal im Innen wurde voll durchgetreten und nun tritt jemand im Außen voll auf die Bremse. ….

Wie fühlt sich das an? Was nimmst du grad wahr?

Fühlt sich nicht gut an. Vermute ich mal.

Die erlösende Entladung

Und ich vermute auch mal, dass ich mit meiner Vermutung nicht so falsch liege. Denn was hier fehlt, ist die erlösende Entladung, die in den Gaspedalimpulsen liegen würde.

Das Kind aus dem Beispiel konnte durch die erfolgreiche Flucht zum Vater diese Energie aktiv nutzen, also umwandeln. Durch die Sicherheit beim Vater konnte sie die Wellen dieser Energie durch den Körper hindurch gehen und abfließen lassen und so den Prozess vervollständigen. Dadurch konnte ihre kleine Welt wieder in Ordnung kommen. Die Tür zurück in die Welt stand ihr nach dem Rückzug beim Papa wieder offen und sie konnte weiter spielen gehen.

Der Schlüssel war hier das Wissen um die Sicherheit beim Vater. Dieses Kind hat bereits die Erfahrung gemacht, dass der Vater ihr in schwierigen Situationen Sicherheit geben kann und seine Hilfe ihr wirklich hilft. Das war an der gut eingespielten Dynamik zwischen den beiden deutlich erkennbar.

Das Thema Bindung

Und hier kommt das Thema Bindung mit ins Spiel. Dieses Mädchen war ein Beispiel für ein Kind, das sichere Bindung erlebt hat … das sicher gebunden ist.

Ein Kind, das in einer ähnlichen Situation in der Vergangenheit Bezugspersonen hatte, die dann geschimpft … beschämt … oder sogar bestraft haben … wird nicht zu diesen Bezugspersonen flüchten. Es wird diesem natürlichen Impuls, der ein Teil unserer menschlichen Serienausstattung ist, nicht folgen. Aus Angst vor Schimpfe … Beschämung … oder Strafe.

Was wird dieses Kind stattdessen tun?

Es wird den eigentlichen Impuls unterdrücken. Es wird die primär vorhandene Energie nicht fließen lassen. Und das ist bei einem Kind die Suche nach Schutz und Sicherheit bei einer Bezugsperson wenn gerade etwas das Kind überwältigendes passiert ist.

Wie genau es den eigentlichen Impuls unterdrückt, ist individuell und komplex. Das hängt von vielen Faktoren ab. Und auch hier ist das Umfeld sehr entscheidend. Das Kind wird in seiner Reaktion eine vom Umfeld akzeptierte Reaktion wählen. Es wird das tun, womit es die höchste Wahrscheinlichkeit auf Akzeptanz und damit Kontakt hat.

Und das ist leider meistens das sogenannte tapfer sein. Denn Indianer kennen ja nun einmal keinen Schmerz … Heulsusen und Dramaqueens braucht die Welt nicht … und stark sein wird belohnt.

Also werden Tränen runtergeschluckt … Zähne zusammen gebissen … und Rotz hochgezogen.

Bezugspersonen, die das dann belohnen, übersehen so viel. Und das kann weitreichende Folgen haben. Das Kind lernt langfristig dadurch nicht seinem Bauchgefühl, seinen Impulsen, seinem Instinkt zu folgen sondern ein akzeptables Verhalten zu zeigen. Das Kind schneidet sich von sich selbst ab und passt sich an.

Für die Umgebung angenehm. Für das Kind in vielerlei Hinsicht unangenehm.

Denn was das Kind noch lernt, ist: Meine Impulse sind falsch. Mein Bedürfnis nach Sicherheit und Kontakt wenn ich es wirklich brauche, wird im Außen nicht befriedigt. Also muss ich selbst für mich schauen. Also muss ich selbst eine Lösung finden.

Grundstein für Lebensmuster

Das kann der Grundstein sein für so Lebensmuster wie … die Welt ist ein unsicherer Ort … ich bin alleine … niemand hilft mir … oder niemand kann mir helfen … ich muss das alleine schaffen … nur mit Härte kommt man im Leben weiter … etc … etc …

Bleiben wir in diesen Impulsen stecken ohne die sogenannte emotionale Vervollständigung, ist es schwer, aus diesem Schneckenhaus wieder rauszukommen. Dann ist es schwer, neugierig, hoffnungsvoll und vertrauensvoll in der Welt unterwegs zu sein.

Die Neuroaffektiven Therapieformen wie Somatic Experiencing nach Peter Levine oder NARM nach Laurence Heller helfen dabei, diese emotionale Vervollständigung nachzuholen und wieder zurück in den Flow des Lebens zurückzufinden. Denn durch die Wandlungsfähigkeit unseres Gehirns kann diese Vervollständigung auch noch viele Jahre später nachgeholt werden.

Wie kannst du dieses Wissen nun in deinem Alltag nutzen?

Alleine um die Phasen nach dem Erschrecken zu wissen … also zu wissen, dass das erst 2 von 6 Phasen sind … danach also noch 4 Phasen folgen, wird dich in Zukunft achtsamer und langsamer machen.

Alleine zu wissen, dass Beschwichtigung … also „Ist ja nix passiert.“ … „War ja nicht so schlimm.“ mehr schaden als nützen, wird dich im Zukunft in diesen Momenten still sein lassen. Allein das wird dich zu einem stillen Beobachter machen, der oder die erst einmal nur für das Gegenüber da ist, sich selbst zurücknimmt … und wartet.

Denn jetzt, wo du weißt, dass energetische Wellen durch den Körper deines Gegenübers gehen werden und auch durchgehen müssen um diese Ladung abzubauen, kannst du einfach abwarten. Ohne viele Worte … ohne dem eigenen Impuls etwas tun zu müssen, nachzugeben. Denn jetzt weißt du ja, dass du dann schadest – obwohl du ja eigentlich helfen willst.

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