Heute Morgen beim ersten Kaffee sinnierten mein Partner und ich so über dies und das (was zu früher Stunde halt so möglich ist) und kamen unter anderem auch auf unsere unterschiedlichen Herangehensweisen in der Planung des Alltags.
Er ist strukturiert, ich eher … ja, was eigentlich? Unstrukturiert? Nicht wirklich. Planlos? Wahrlich nicht. Chaotisch? Ganz sicher nicht. Ich liebe Ordnung, im Innen wie im Außen. Aber ich tue mich z. B. mit Terminen mit mir selbst schon schwer. Nicht darin sie zu setzen, eher klemmt es gerne bei der Einhaltung. Ein Beispiel: Er hat ein festes wöchentliches Sportprogramm, bei mir kommt irgendwie immer was dazwischen mich aufs Rad oder die Yogamatte zu setzen oder die Laufschuhe anzuziehen. Ich bekomme einfach keinen Rhythmus zustande.
„Ordnung braucht nur der Dumme, …
… das Genie beherrscht das Chaos.“ wusste schon Albert Einstein. Nur so einfach ist es dann doch nicht. Denn während ich heute Morgen so in meiner Calvin und Hobbes-Tasse (ich liebe das Chaos das die beiden anrichten) rührte, mich zum Freigeist-Dasein bekannte und mir eingestand, dass für mich Struktur eher zur Rubrik ‚Notwendiges Übel’ gehört, entspannte sich etwas in mir.
Parallel aber tauchte sofort innerer Druck und das Bedürfnis mich zu rechtfertigen auf. Das machte mich neugierig. Und so beobachtete ich, wie in mir etwas von einem Ende des Spektrums zum anderen hüpfte.
Es tauchten jede Menge (Be-)Wertungen meines inneren Kritikers auf. Gepaart mit einem blöden Knoten in meinem Bauch und jeder Menge Unruhe. Es fiel mir auf einmal schwer, den Blick auf das große Ganze zu richten. Vor allem das Bedürfnis mich wortreich zu rechtfertigen und entschuldigen, nervte. Denn für was? Und warum? Und bei wem?
Entweder-Oder vs. Sowohl-als-auch
Die Fähigkeit zum Sowohl-als-auch-Denken haben (kleine) Kinder nicht. Dass Mama einen lieb UND heute schlechte Laune hat weil irgendwer sie beim Einkaufen geärgert hat, kann ein Kind nicht denken.
Im Kopf des Kindes entsteht vielmehr folgendes Bild: „Ich bin nicht okay, sonst wäre Mama lieb zu mir. Also muss ich mich mehr bemühen, dann hat Mama mich wieder lieb.“
Nur kann das Kind sich bemühen wie es will: Mamas Laune bleibt schlecht. Schließlich hat für Mama das eine nichts mit dem anderen zu tun. Also bemüht sich das Kind mehr. Und mehr. Und mehr. Und geht Mama damit sehr wahrscheinlich nur noch zusätzlich gehörig auf die eh schon strapazierten Nerven.
Für meinen Vater war Unstrukturiertheit und die damit verbundene Unkalkulierbarkeit und Lebendigkeit ein Graus. Also hat er uns Kinder ausgebremst indem er ziemlich knackige Wertungen dazu abgegeben hat oder uns schlicht ignoriert hat. Meine kindliche Logik machte daraus: „Wenn ich so bin, mag Papa mich nicht.“ Also übte ich mich als brave Tochter in Ordnung und Struktur und merkte überhaupt nicht, dass ich mich von einer sehr liebenswerten Facette meiner Persönlichkeit abschnitt. Und das eigentlich nur, weil mein Vater es nicht liebenswert fand, weil es (= ich) ihm zu anstrengend war.
Die größte Sehnsucht
Sich so zu zeigen, wie man ist UND so geliebt zu werden, ist die größte Sehnsucht des Menschen.
Nur: immer da wo die größte Sehnsucht ist, lauert auch die größte Angst.
Kognitiv können wir den meist (wie ich s. o.) zuordnen. Nur ist damit die Angst nicht weg. Eher im Gegenteil.
Denn im Sehnen steckt viel verletzliche Energie, und in der Angst viel verletzte Energie.
Und so entwickeln wir als Kinder eine Strategie: wir vermeiden aus Selbstschutz und Scham das unerwünschte Verhalten, verschließen diesen Teil unserer Identität und bauen uns mit den Jahren eine sogenannte stolzbasierte Gegenidentifizierung auf.
Stolzbasierte Gegenidentifizierung
Schauen wir dann durch diese stolzbasierte Gegenidentifizierungs-Brille ist uns klar: Freigeister haben sich schlicht und einfach nicht im Griff, sind schwache Charaktere und man selber ist sehr stolz darauf so strukturiert und ordentlich zu sein.
Den Weg kreuzende Freigeister beäugt man zwar neidvoll aus dem Augenwinkel, aber bevor das jemand bemerken könnte, wenden man sich mit gerümpfter Nase ab.
Im so drüber nachdenken, tauschte er dann irgendwo auf dem Boden meiner Kaffeetasse auf, der berechtigte Zweifel an dem kindlichen (nicht kindischen!) Glaubenssatz. Denn ein Freigeist zu sein, bedeutet ja nicht automatisch im Chaos zu versinken. Und da war es dann: das so entspannende:
Sowohl-als-auch
Aber dafür musste ich nicht alleine erst die Tasse austrinken. Ich musste erst durch all diese Gedankenschleifen und emotionalen Befindlichkeiten. Emotional nacherleben nennt man das. Als die Erwachsene die ich heute bin. Denn nur das erwachsene Ich kann zweifeln und an den alten verinnerlichten Familiengesetzen und damit Lebensgesetzen rütteln.
Das Kind damals konnte das nicht. Es musste sich fügen und anpassen. Denn dem Gegendruck kann kein Kind standhalten. Es würde zerbrechen.
Nur reicht es auch für einen Erwachsenen alleine nicht, das Sowohl-als-auch nur zu DENKEN. Damit bleiben wir im Kopf, in der vermeintlichen Kontrolle. Es braucht Zeit und ein Gegenüber um mit den Emotionen und Empfindungen, die das das Sowohl-als-auch mit sich bringt, in Kontakt zu kommen.
Sich heute im Kontakt mit einem Gegenüber zu fühlen, die Sehnsucht wahrzunehmen und die Angst zuzulassen. Im gleichen Moment. Die verletzliche Energie und die verletzte. Die heute wieder zaghaft aufkeimende Lust und den alten Ärger darüber, dass unsere Eltern ihre eigenen Unzulänglichkeiten zu unseren gemacht haben.
Die Bedeutung des Gegenüber
Damals hat unser Gegenüber (Mama, Papa oder eine andere wichtige Bezugsperson) in einer Form reagiert, die uns nicht gutgetan hat. Vielleicht wurden wir beschämt, geschimpft oder sogar körperlich bestraft. Also haben wir uns aus Selbstschutz nicht mehr getraut, uns so zu zeigen.
Für eine gehirngerechte und damit nachhaltige Auflösung dieser alten unguten Schleife braucht es ein Gegenüber, das diesmal angemessen reagiert. Und genau das ist als tribe-Coach meine Rolle.
Im Wissen um die vielschichtigen, schnellen inneren Dynamiken manövriere ich meine Klienten langsam und ruhig wie ein Lotse durch ihre inneren Stromschnellen. So kann etwas endlich zur Ruhe kommen und wieder mit der ureigenen Lebensenergie gefüllt werden.
Und nun?
Wenn beim Lesen dein Freigeist-Anteil gerade Morgenluft gewittert hat und dich in innere Unruhe versetzt, dann schau dich doch im ersten Schritt mal in Ruhe nach dem alten Gegenspieler um. Welcher alte Glaubenssatz hält deinen Freigeist aktuell in Schach?
Und nimm dir dann ein wenig Zeit für die Frage: wie geht es mir damit, hier und jetzt BEIDE zu sehen? Den Glaubssatz und den Freigeist? Und mich nicht für einen von den beiden entscheiden zu müssen oder mit ihnen irgendwas schlaues tun zu müssen. Wahrnehmen und beobachten reicht.
Jetzt in diesem Moment wertfrei, achtsam und so liebevoll wie gerade möglich mit dieser verletzlichen Energie und der verletzten Energie gleichzeitig zu sein, kann innerlich ruhiger und kraftvoller werden lassen. Und damit wäre der erste Schritt raus aus dem alten Muster bereits getan.
Und du wirst merken: jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt.