Die Einladung bewusst und tiiiiiief durchzuatmen, hast du sicherlich schon mehr als einmal gemacht bekommen. Vielleicht im Rahmen einer Entspannungstechnik … oder beim Thema Achtsamkeit … oder als Tipp, wenn es in der Welt um dich herum ein wenig turbulent zu zugeht. Der tiefe Atemzug gehört hier einfach dazu und es gibt eigene Therapieformen, die komplett auf dem Atem beruhen.
Seit ich um die Auswirkungen von Trauma im Körper weiß, zucke ich jedes Mal ein bisschen zusammen, wenn ich höre wie jemand sagt: „Mit einem tiefen Atemzug bist du wieder in deinem physischen Körper und damit im Hier und Jetzt.“
Denn der Satz ist zwar so wahr wie richtig. Nur ist es genau das, was Menschen, die unerlöste Traumaspuren in sich tragen, versuchen zu vermeiden wie der Teufel das Weihwasser. Nämlich im Hier und Jetzt im Körper zu sein.
Warum das so ist und wie schon ein bisschen Traumawissen hier Abhilfe schaffen und der Atem wieder besser fließen kann, darum geht es in diesem Podcast.
Tief atmen ist toll, tut gut und belebt
Ja, es gibt kaum etwas wohltuenderes und entspannenderes als ein paar tiefe Atemzüge, als tiefes genussvolles durchatmen. In dem Moment des Durchatmens steht gefühlt die Welt für einen Moment still, wir werden weit und Ruhe kehrt ein. Ich bin mittlerweile ein großer Fan dieser Fähigkeit, die uns Mutter Natur in die Serienausstattung gepackt hat, unsere Lungen und unseren Rippenbogen bewusst durch tiefes Atmen zu dehnen und uns dadurch nicht nur innerlich sondern auch äußerlich aktiv mehr Raum zu schaffen. Das ist einfach nur toll, tut gut und belebt.
Wir seufzen instinktiv, wenn wir etwas Schönes sehen oder erleben. Wir atmen tief durch, wenn wir auf einem Berg stehen und den Blick schweifen lassen. Und nach ein paar bewussten Atemzügen sieht die Welt meist gleich ganz anders aus.
Und das ist das Problem
Und hier liegt für Menschen, die unerlöste Traumaspuren in sich tragen, das Problem.
Denn tiefes durchatmen bringt nicht nur Energie in den Körper. Sie bringt auch uns selbst wieder in Kontakt mit unserem Körper. Wir spüren uns wieder mehr.
Was soll daran das Problem sein?
An sich nichts. Nur gehört zu einem traumatischen Erlebnis, dass wir uns, wenn es passiert, von unserem Körper, von unseren Körperempfindungen abschneiden. Um das Unerträgliche des Moments irgendwie zu ertragen, dissoziieren wir. Wir verlassen unseren Körper und werden wie taub. Was ja an sich durchweg sinnvoll und intelligent ist.
Der Körper-FI-Schalter
Ich vergleiche das immer mit dem sogenannten FI-Schalter im Sicherungskasten. Dieser FI-Schalter ist eine Schutzvorrichtung, die bei Fehlerströmen von selbst den gesamten Stromkreis abschaltet. Im Gegensatz zu normalen Haussicherungen greift der FI-Schalter nicht bei Überlastungen der Leitungen, sondern fliegt erst raus, wenn es darum geht vor lebensbedrohlichen Stromschlägen zu schützen.
Und genau das passiert auch in unserem Körper: bevor der körperliche oder/und seelische Schmerz zu groß und der damit verbundene Stress lebensbedrohlich werden kann, dissoziieren wir und wenn das nicht reicht, werden wir bewusstlos.
Nur kehren wir danach nicht wieder zurück in unseren Körper als wenn nichts gewesen wäre. Je nachdem, was uns passiert ist, bleibt der Körper-FI im ausgeschalteten Zustand, bleiben wir vorsichtshalber unverbunden. Und das häufig über Jahre und Jahrzehnte. Mit weitreichenden Folgen für unsere Gesundheit und unsere Psyche.
Denn unser Körpersystem findet zwar allein und instinktiv den Weg raus aus dem Körper, wenn es ihm zu viel wird, aber ohne Hilfe und Unterstützung finden wir den Weg zurück nicht.
Aber warum ist das so?
Warum schauen uns danach nicht einfach um, orientieren uns wieder neu und alles ist wieder gut? Warum erkennt unser System nicht, dass das, was da gerade passiert ist, vorbei ist und wir wieder zur Tagesordnung übergehen können? Also einmal tief durchschnaufen und weiter geht‘s?
Damit es uns den FI raushaut, muss ein Ereignis die 3 Traumakriterien erfüllen: zu schnell, zu viel in zu wenig Zeit. Sind diese Drei Kriterien erfüllt, wurde unser System überwältigt und dass bedeutet, dass zentrale Impulse in uns unerledigt bleiben. Und diese zentralen Impulse sind Flucht, Angriff oder Erstarren.
Ein Beispiel
Dieses auf den ersten Blick kompliziert erscheinenden Satz, pflücke ich anhand von einem Beispiel auseinander um ihn verständlicher zu machen.
Nehmen wir an, wir sind mit unserem Fahrrad auf dem Weg sagen wir mal zur Arbeit. Wir radeln vor uns hin und plötzlich wird bei einem parkenden Auto vor uns ohne vorherigen Blick in den Spiegel die Autotür geöffnet. Und ehe wir reagieren können, prallen wir gegen die Tür und fallen vom Fahrrad. Die 3 Traumakriterien von zu schnell, zu viel in zu wenig Zeit sind hier:
Die Tür stand plötzlich = zu schnell wie eine Wand vor uns.
Da waren plötzlich zu viele Informationen gleichzeitig.
Und wir hatten für die Bewältigung der Situation zu wenig Zeit, denn durch die zu vielen Kräfte, die alle gleichzeitig auf uns eingewirkt haben, hatten wir keinerlei Chance zu reagieren.
Zwischen dem gerade noch entspannt vor sich hin radeln und auf dem Asphalt liegen, liegen nur ein paar Sekunden. Sekunden, in denen gleichzeitig extrem viel passiert ist. Der Schreck, die instinktiven Reaktionen des Körpers – und Luftanhalten ist eine hiervon -, der Sturz an sich, der körperliche Schmerz … Für all das hat unser System zu wenig Zeit um es zu verstoffwechseln.
Denn es hatte zu wenig Zeit sich entweder für Flucht, Angriff oder Erstarren zu entscheiden. Denn da lagen wir ja schon auf dem Boden.
Auch wenn es glimpflich abgelaufen ist und wir danach vielleicht sogar wieder weiterfahren konnten, ist uns der Schreck dennoch erst einmal gehörig in die Knochen gefahren und wir brauchen ein bisschen Zeit, um uns wieder zu sortieren. War das das erste Erlebnis dieser Art, erholen wir uns wieder. Vielleicht sind wir dann eine Weile ein wenig angespannt, wenn wir wieder auf dem Fahrrad sitzen, aber ein resilientes Nervensystem erholt sich nach ein paar positiven Erfahrungen wieder von so einem Schreck.
Hatten wir aber schon früher im Leben einige Unfälle und/oder war dieser Unfall doch eher ein heftiger, vielleicht mit Krankenhaus und OPs, sieht die Welt anders aus.
Flach atmen wird zu unserem Grundatemmuster
Dann bleiben wir in diesem Schreckmoment wie stecken … dann wird flach atmen zu unserem Grundatemmuster und es ist uns nicht einmal bewusst. Warum genau das so ist und was genau hier in unserem Nervensystem passiert, würde den Rahmen dieses Podcasts sprengen. Aber wenn du hierzu mehr wissen möchtest, dann hör dir Podcast Nr. 9: Trauma-Basics: Der Ablauf einer Bedrohungsreaktion gleich im Anschluss an.Und ich komme auf diese zentralen Prinzipien immer wieder zu sprechen. Daher abonniere am besten gleich meinen Kanal und bekomm dadurch mit der Zeit mehr und mehr ein Verständnis für diese in uns allen von Mutter Natur angelegten Abläufe.
Für heute nur so viel: indem wir auch über z. B. einen Unfall hinaus eher flach atmen, stehen wir wie mit einem Fuß auf dem Bremspedal unseres Nervensystems. Wir versuchen dadurch, die Menge an Informationen, die durch uns und unseren Körper fließt zu steuern und zu kontrollieren. Was mal mehr, mal weniger klappt. Denn diese Energien lassen sich nicht durch unseren Willen steuern.
Wenn wir dann irgendwann einmal später in unserem Leben aufgefordert werden, tiiiiief zu atmen, geht von unseren Verstand zumeist unbemerkt im Körper eine dicke fette rote Warnlampe an. Unser System bekommt wie Angst, dass es gleich wieder überflutet wird. Schließlich hat es ja nicht ohne Grund auf Flachatmung umgestellt.
Und daher können wir uns zwar bewusst sagen, „Jetzt tief atmen.“ und das auch rein anatomisch tun, aber unser Körper wird den Fuß nicht vom Bremspedal nehmen. Und daher hat so ein tiefer Atemzug bei Menschen, die unerlöste Traumaspuren in sich tragen, so wenig Wirkung.
Die beschriebene und ja auch ersehnte Wirkung von im Körper ankommen … Entspannung … Ruhe … Erdung … bleibt aus. Was sich hingegen oft einstellt, ist das Gefühl wieder etwas falsch gemacht zu haben … es wieder nicht hinbekommen zu haben … wieder selbst so was einfaches wie atmen nicht auf die Reihe zu bekommen.
Und diesen Automatismus aus Selbstbeschämung zu unterbrechen, habe ich diesen Podcast aufgenommen.
Denn solltest du zu denen gehören, denen es schwer fällt durch einen tiefen Atemzug im eigenen Körper anzukommen und sich dann dabei auch wohlzufühlen … du machst nichts falsch. Und es hilft auch nicht, sich mehr zu bemühen.
Dein Körper schützt dich. Und er weiß wovor. Er erinnert sich.
Und dabei ist es ihm so was von egal, ob es gerade sinnvoll wäre tief zu atmen … oder was der Verstand dazu sagt … oder alle drumherum gerade tief und genussvoll atmen … und dabei tolle Dinge erleben.
Solltest du all das kennen, rate ich dir: such dir einen Neuro Affektiven Trauma-Therapeuten in deiner Nähe und erforsche mit ihm oder ihr, was einer tiefen Entspannung in die Quere kommt, wenn du versuchst tief zu atmen. Und dann lass dich überraschen, wo die Reise dich hinführt. Lass dich überraschen, was du entdecken wirst, wenn du dich der Weisheit deines Körpers anvertraust. Es würde mich nicht wundern, wenn endlich tief atmen können, dann nur ein positiver Nebeneffekt ist.