Trauma und Perfektionismus

Vielleicht kennst du das Gefühl, dass du dich anstrengen musst, um alles richtig zu machen – nicht nur, weil du gute Arbeit leisten willst, sondern weil es sich anfühlt, als hinge davon etwas Existenzielles ab. Fehler machen dich nervös, manchmal sogar ängstlich, und es geht dir erst wieder besser, wenn alles rund läuft.

Aber woher kommt das? Warum fällt es uns oft so schwer, uns zu erlauben, einfach Mensch zu sein – mit all unseren Ecken und Kanten? Und warum ist Perfektionismus so tief in uns verankert, obwohl wir wissen, dass er uns oft mehr stresst, als dass er uns hilft?

Genau darum geht es in diesem Podcast. Ich lade dich ein, gemeinsam mit mir zu erkunden, wie Perfektionismus und unverarbeitete Verletzungen, die wir in der Vergangenheit erlebt haben, zusammenhängen. Ich werde dir erklären, warum Perfektionismus oft eine Strategie ist, mit der wir unbewusst versuchen, uns sicher zu fühlen. Und ich werde dir zeigen, wie wir Schritt für Schritt lernen können, diesen Druck loszulassen und einen anderen Umgang mit uns selbst zu finden.

Was ist Perfektionismus?

Bevor wir uns dem Zusammenhang zwischen Perfektionismus und Trauma widmen, möchte ich die Begriffe erst einmal genauer anschauen, damit wir eine gemeinsame Grundlage haben.

Perfektionismus ist mehr als nur der Wunsch, etwas gut zu machen. Es ist ein innerer Zwang, fehlerlos zu sein – nicht aus Freude am Erfolg, sondern aus Angst vor den Konsequenzen, wenn es nicht perfekt läuft. Perfektionismus ist ein ständiger Druck, der von einem sogenannten „inneren Kritiker“ angefeuert wird. Dieser Kritiker versucht dir permanent einzureden, dass du nur dann wertvoll bist, wenn alles bis ins kleinste Detail stimmt … wenn alles perfekt ist … wenn du perfekt bist.

Oder als Kurzversion: Perfektionismus ist keine intrinsische Motivation, sondern ein Schutzmechanismus.

Und was ist ein Trauma?

Trauma bedeutet, dass unser Nervensystem überfordert wurde. Es ist das Ergebnis von Erfahrungen, die zu viel, zu schnell und in zu kurzer Zeit passiert sind. Erfahrungen, die unser Gehirn und unseren Körper überflutet und überwältigt haben.

Traumatische Erlebnisse können jeden von uns treffen, und sie sind nicht immer groß und offensichtlich. Oftmals wirken sie subtil, weil sie tief in unserem Nervensystem gespeichert werden, ohne dass wir oder unsere Umgebung sie bewusst als Trauma erkennen.

Ein Trauma entsteht dann, wenn unser Nervensystem keine Zeit hatte, das Erlebte zu verarbeiten und sich wieder zu regulieren. Stattdessen bleibt eine tiefe Spur im Körper zurück – eine Übererregung, die uns in ständiger Alarmbereitschaft hält. Es geht nicht nur um das, was passiert ist, sondern auch darum, wie wir es erlebt haben. Und wie es danach weiter gegangen ist.

Für manche Menschen kann ein scheinbar harmloser Moment – wie ein strenger Blick oder eine abweisende Reaktion – zu einem prägenden Erlebnis werden, weil er das Gefühl von Sicherheit erschüttert hat.

Und hier beginnt der Zusammenhang mit Perfektionismus.

Wenn unser Nervensystem diese Unsicherheit gespeichert hat, sucht es nach Wegen, um wieder Kontrolle und Stabilität herzustellen und um in Zukunft eine Wiederholung der unangenehmen Situation zu vermeiden. Perfektionismus ist eine dieser Strategien.

Der Zusammenhang zwischen Trauma und Perfektionismus

Um den Zusammenhang zwischen Trauma und Perfektionismus besser zu verstehen, müssen wir uns anschauen, wie unser Nervensystem funktioniert und warum es so stark darauf bedacht ist, Sicherheit zu schaffen.

Wenn wir traumatische Erfahrungen machen – also Erlebnisse, die zu viel, zu schnell und in zu kurzer Zeit passieren –, versetzt uns das in einen Alarmzustand. Unser Gehirn, insbesondere die stressverarbeitenden Zentren wie die Amygdala – der Rauchmelder in unserem Gehirn -, bleibt in einer Art Dauerschleife der Wachsamkeit. Es sucht ständig nach möglichen Gefahren, selbst wenn diese im Hier und Jetzt gar nicht mehr real sind.

In diesem Zustand versuchen wir uns dann auf der Verhaltensebene Linderung zu verschaffen. … Was meine ich damit? … Wenn unser Körper im Alarmzustand ist ohne dass unser Verstand einen Grund erkennen kann, versuchen wir die Energie des Alarmzustandes durch Tun abzubauen. Wir räumen auf … putzen akribisch … überprüfen alles noch einmal … Lässt dabei der innere Druck ein bisschen nach, hat unser System gelernt, dass wir uns auf bestimmte Weise verhalten müssen, um uns wieder gut und sicher zu fühlen.

Perfektionismus entsteht häufig aus dem Bedürfnis nach Sicherheit. Unser Gehirn sagt uns: „Wenn ich alles richtig mache, kann nichts Schlimmes passieren.“ oder: „Wenn ich perfekt bin, werde ich nicht kritisiert, nicht abgelehnt, nicht verletzt.“

Besonders stark ist dieser Mechanismus, wenn wir in unserer Kindheit wiederholt Erlebnisse hatten, die unser Sicherheitsgefühl erschüttert haben. Vielleicht hast du erlebt, dass deine Bedürfnisse ignoriert wurden oder dass selbst kleine Fehler immer wieder zu großer, scharfer Kritik geführt haben. Vielleicht hattest du Eltern oder Bezugspersonen, die nur dann zufrieden mit dir schienen, wenn du perfekte Leistung gebracht hast … für die eine 2 in der Schule eben nur gut und nicht sehr gut war.

Das Problem ist, dass unser Nervensystem diese Muster speichert und sie auch dann weiter abspult, wenn sie längst nicht mehr hilfreich sind.

Ein Beispiel: Stell dir vor, du bereitest eine Präsentation vor. Obwohl du objektiv gut vorbereitet bist, spürst du diesen inneren Druck, noch mehr zu tun. Du überarbeitest jede Folie, überprüfst jedes Detail – nicht, weil es nötig ist, sondern weil dein Nervensystem dir einredet, dass etwas Schlimmes passieren könnte, wenn du das nicht tust … wenn du nicht alles dafür tust, dass die Präsentation fehlerfrei, also perfekt ist.

Dieser Drang nach Perfektion ist also kein Wunsch … basiert nicht auf der Lust und Freude am Prozess, sondern sie ist ein Versuch, alte Unsicherheiten zu bewältigen. Perfektionismus ist eine Art Schutzschild, den wir uns gebaut haben, um mit einer Angst umzugehen, die tief in unserem Körper sitzt.

Wie wir den Teufelskreis durchbrechen können

Der erste Schritt, um aus diesem Muster auszubrechen, ist zu verstehen, dass Perfektionismus eine Überlebensstrategie ist. Eine Überlebensstrategie, die uns irgendwann geholfen hat, in einer unsicheren oder überwältigenden Situation, für die wir nicht verantwortlich waren, zurechtzukommen. Aber was früher notwendig war, ist heute oft hinderlich.

Ein zentraler Aspekt des Perfektionismus, der ihn besonders hartnäckig macht, ist die stolzbasierte Identifizierung, wie sie im NARM-Modell von Dr. Laurence Heller beschrieben wird. NARM, das Neuroaffektive Beziehungsmodell, beschäftigt sich mit der Frage, wie wir uns selbst und unsere Überlebensstrategien mit unserer Identität verweben.

Für viele Perfektionisten ist ihr Perfektionismus nicht nur ein Schutzmechanismus, sondern etwas, auf das sie insgeheim stolz sind. Vielleicht erkennst du das auch bei dir: du bist stolz darauf, zuverlässig, diszipliniert oder leistungsfähig zu sein. Du magst es, als jemand gesehen zu werden, der alles im Griff hat, der keine Fehler macht. Dieser Stolz kann uns das Gefühl geben, wertvoll und besonders zu sein.

Doch dieser Stolz hat einen Preis. Denn hinter diesem Stolz steckt oft eine tiefe Verletzung. Viele Perfektionisten identifizieren sich so sehr mit ihrem Perfektionismus, weil sie sich insgeheim davor fürchten, ohne ihn nichts wert zu sein. Der Gedanke, nicht perfekt zu sein, fühlt sich nicht nur unangenehm an – er kann sich bedrohlich anfühlen, fast so, als würde man seine Identität verlieren.

Und hier liegt der Schlüssel, um den Teufelskreis zu durchbrechen. Es geht darum, den Unterschied zu erkennen zwischen dem, was man tut, und dem, wer man ist.

Denn der Wert eines Mensch hängt nicht davon ab, wie perfekt er oder sie ist oder wie viel er oder sie leistet.

Ich weiß aus eigener Erfahrung: Das ist leicht gesagt, aber oft schwer zu fühlen – vor allem, wenn Perfektionismus so tief in deiner Identität verwurzelt ist.

Aus dem Nähkästchen geplaudert

Hier mag ich grad mal ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudern, wie mir mein falscher Selbstanspruch jahrelang in die Quere kam:

Ich taste mich seit einiger Zeit wieder in das große Feld der sozialen Medien vor und probiere die unterschiedlichen Formate aus. Wieder, denn alle bisherigen Versuche sind am unguten Teil meines Perfektionismus gescheitert.

Wie das?

Wie es nun einmal in der Natur des Ausprobierens liegt, klappt nicht alles auf Anhieb, von perfekt kann man schon mal überhaupt nicht reden und es ist auch nicht alles nach allen Regeln der Kunst und im Sinne der Algorithmen. Da hört man bei einigen Podcasts, wie ich die Aufnahme starte … oder ich verhaspel mich beim sprechen … bei einigen Videos sieht man, dass ich die Fernbedienung in der Hand habe … der Kamerawinkel oder das Licht ist noch nicht optimal … von einer perfekten Frisur bin ich teilweise weit entfernt (okay … was bei Naturlocken eh ein Ding der Unmöglichkeit ist, aber das ist wieder ein anderes Nicht-Perfekt-Thema) … usw … usw … usw.

Um von Menschen, die sich schon eine Weile in den sozialen Medien mit Erfolg tummeln zu lernen, schaue ich mir zwischendurch immer mal wieder ihre Kanäle an und versuche rauszufinden, nach welchen Regeln sie posten und wie sie ihre Posts gestalten. Und wenn ich sehe, wie rund und einheitlich sie konsequent an ihrer Sichtbarkeit arbeiten, kann ich nur den Hut ziehen.

Heute kann ich mir solche Profikanäle anschauen ohne die Krise zu kriegen. Früher hätte mich das in die Verzweiflung gestürzt. Ich wäre im Angesicht von deren Professionalität eingeknickt und hätte die nächste Zeit damit verbracht, alle meine bisherigen Sachen vom Netz zu nehmen und neu zu machen … besser zu machen … um irgendwie an den Standard der anderen ranzukommen.

Die Tatsache, dass auch diese Menschen irgendwann einmal mit einem 1. Podcast … einem 1. Video … gestartet sind und der meilenweit von der Qualität und technischen Finesse des heutigen 300. Podcast oder 200. Video entfernt war, habe ich dabei früher geflissentlich ignoriert. Ebenso die Tatsache, dass hier zumeist ein ganzes Team aktiv ist und nicht nur die One-Woman-Show, die ich aktuell noch bin. Bei anderen war das logisch und Patzer verzeihlich, für mich nicht mal im Ansatz denkbar. Auch Video 1 oder Podcast 1 musste gleich auf Anhieb gut werden. Und wenn es das nicht war … nun, dann wurde es kurzerhand gelöscht. Frag mich nicht wie viele Videos dabei im Papierkorb meines Mac gelandet sind …

Dieser Prozess war vor allem eins: zermürbend und frustrierend. Und daher habe ich dann bisher auch immer wieder aufgegeben und mir selbst erklärt, dass ich das halt nicht kann … dass ich das Feld den Profis überlassen sollte … und nicht länger versuchen sollte, hier nach den Sternen zu greifen.

Aber die Stimme in mir, die Podcasts und Videos und Social Media machen WILL, gab einfach keine Ruhe. Und so habe ich mir meinen Perfektionismus-Hirnknoten in eigenen Sitzungen angeschaut und Schritt für Schritt gelockert.

Heute kann ich meinem Herzblut folgen, unperfekte Podcasts machen und sie dennoch hochladen … heute kann ich mir ein Video von mir anschauen und sehen, dass da eine Locke ihr Eigenleben hat – und es dennoch hochladen … heute kann ich mir bei anderen Kanälen Inspirationen holen ohne mich gleich für meinen Kanal in Grund und Boden zu schämen. Heute kann ich mir erlauben, auf diesem Gebiet Lernende zu sein, daran sogar noch Spaß zu haben und mich zu freuen wie ein Kind, wenn – wie gerade passiert – ich ein neues Tool entdeckt habe und endlich kapiere wie es funktioniert.    

Wie ist mir das gelungen?

Ein erster Schritt war: ich habe meinen Perfektionismus hinterfragt.

Du kannst dich selbst einmal fragen: „Wie geht’s mir mit meinem Perfektionismus? Was gibt er mir? Und was nimmt er mir?“ Viele Perfektionisten merken, wenn sie ehrlich sind, dass ihr Perfektionismus ihnen zwar kurzfristig das Gefühl von Sicherheit gibt, sie aber auf lange Sicht auslaugt.

Ein weiterer wichtiger Schritt ist, Mitgefühl für sich selbst zu entwickeln – und das bedeutet, ehrlich den Stress und die Not wahrzunehmen, der hinter dem Perfektionismus steckt. Wichtig ist hier, das Bedürfnis perfekt zu sein zu fühlen … es ehrlich wahrzunehmen, als das, was es ist: ein Bedürfnis … und gleichzeitig zu erkennen, dass es dich nicht vollständig definiert … dass es dich als Mensch nicht definieren kann.

Das NARM-Modell bietet hier eine hilfreiche Perspektive: Es geht nicht darum, deinen Perfektionismus zu „bekämpfen“ oder loszuwerden, sondern ihn als das wahrzunehmen was er im Kern ist: ein Bewältigungsmechanismus.

Es geht darum zu lernen, dich von diesem alten Muster zu distanzieren, ohne es zu verurteilen.

Probier doch mal folgenden Satz aus: „Ja, Perfektionismus war für mich lange eine wichtige Strategie und sie hat mir gute Dienste erwiesen. Aber ich bin mehr als mein Perfektionismus.“

Und dann spür diesen Worten nach. Wie fühlt es sich an sie zu denken oder vielleicht sogar laut auszusprechen? Wackelig? Noch ein bisschen unsicher? Traust du dir hier selbst noch nicht? Oder ist da ein tiefes Durch- und Ausatmen? Vielleicht sogar verbunden mit einem Gefühl der Erleichterung? Egal was es ist, nimm es einfach bewusst war. Ohne Wertung, denn so unglaublich es für einen Perfektionisten zunächst erscheinen mag: hier gibt es kein richtig und kein falsch. Hier gibt es kein Ziel, dass es zu erreichen gilt und auch keine Messlatte, die man im Vergleich mit jemand anderen überspringen muss. Wahrnehmen, spüren und sich bewusstwerden, was du wahrnimmst und spürst, reicht.

Auch im Alltag kannst du beginnen, kleine Schritte zu gehen, um dich bewusst und aktiv aus dieser alten Identifikation zu lösen. Probiere doch mal aus, Aufgaben bewusst unperfekt zu erledigen – nicht, weil du dich sabotieren willst, sondern um dir zu zeigen, dass die Welt nicht zusammenbricht, wenn etwas nicht perfekt ist. Und auch hier gilt wieder: nimm bewusst und in Ruhe wahr: wie ist es zu bemerken, dass im Hier und Jetzt von Außen gerade keine Kritik kommt, wenn du z. B. mal ausprobierst dein Brot mit der anderen Hand zu schmieren oder von der falschen Seite aufs Fahrrad zu steigen?

Es geht darum, dich selbst in deiner Ganzheit zu sehen – mit all deinen Stärken UND deinen Schwächen … mit deinen Ecken und Kanten … also mit allem, was dich einzigartig ausmacht. Dein Perfektionismus war vielleicht ein Teil deiner Geschichte, aber er muss nicht deine Zukunft bestimmen.

Zum Abschluss sind mir noch zwei Sachen wichtig:

  1.  Du wurdest nicht als zwangeliger Perfektionist geboren. Er ist das Ergebnis von Erfahrungen, die dich geprägt haben – Erfahrungen, die zu viel, zu schnell und in zu kurzer Zeit passiert sind. Aber das bedeutet nicht, dass du für immer in diesem Muster gefangen bleiben musst. Du kannst lernen, diese alten Schutzmechanismen loszulassen und dir selbst mehr Leichtigkeit zu erlauben.
  2. Du musst nicht lernen, hier irgendwas zu lieben oder großartig wertzuschätzen. Es geht darum diese alten Dynamiken zu transformieren um innerlich frei von ihnen zu werden. Die Weisheit, die in der Entwicklung dieses Bewältigungsmechanismus steckt … ja … die hat Wertschätzung und Liebe verdient. Aber die schon damals zu hohen Ansprüche eines uneingestimmten Außen die man in vorauseilendem Gehorsam internalisiert hat, muss man nicht wertschätzen, geschweige denn lieben. Die darf man heute klar als das zurückzuweisen was sie schon immer waren: zu hohen Ansprüche eines uneingestimmten Außen.

Ich hoffe, es ist mir gelungen dir ein paar Gedankenimpulse zu diesem vielschichtigen Thema zu geben. Wenn du magst, teile deine Gedanken oder Fragen mit mir und schreib in die Kommentare, was dir gerade so durch den Kopf geht.

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