Beim Thema Transgenerationales Trauma werde ich immer wieder gefragt: wie geht das überhaupt? Wie kann Trauma von Generation zu Generation weitergegeben werden? Und wie kann man diese Weitergabe unterbrechen?
Wieder einmal vorweg: das ist ein so was von komplexes Thema, dass ich mir nicht anmaße hier eine Antwort geben zu können. Hier wirken Kräfte, die die Möglichkeiten unseres Verstandes übersteigen. Als Systemaufstellerin erinnere ich mich an Aufstellungen, die ich leiten durfte, wo ich nur demütig staunen konnte, was hier an die Oberfläche gespült wurde.
Aber: schaut man durch die Bindungsdynamische Brille wird das Thema deutlich griffiger. Und damit veränderbarer. Und wie gesagt: durch die Bindungsdynamische Brille zu schauen ist EIN möglicher Blickwinkel von vielen.
Hierzu ein Beispiel:
Menschen, die den Krieg erlebt haben, haben fürchterliches erlebt und gesehen. Nehmen wir ein Schicksal als Beispiel:
Ein Mann war an der Front und musste miterleben, wie seine Kameraden im Schützengraben neben ihm starben. Und er hat all die Kriegsgreuel, Kriegsgefangenschaft inklusive überlebt.
Dieser Mann wird dann Vater und sein kleiner Sohn stürzt mit dem Fahrrad. Der Schreck ist groß, das Geschrei auch, Knie und Hände sind blutig aufgeschürft und tun weh. Was würde dieses Kind jetzt brauchen? Nicht schwer zu erraten: … Jemanden der tröstet und pustet. Und bunte Pflaster hat.
Schauen wir nun durch die Augen des Vaters auf diese Situation. Was sieht er bzw. was kann er sehen? Wie viel Kapazität hat er, um angemessen auf die Bedürfnisse seines Sohnes zu reagieren? Auch nicht schwer zu erraten: nicht viel. Und für seinen Sohn in diesem Moment höchst wahrscheinlich zu wenig oder nicht stimmig.
Aber warum ist das so?
Unser Gehirn gleicht in Bruchteilen von Sekunden das, was wir gerade erleben mit irgendwann einmal in der Vergangenheit Erlebtem ab und leitet daraus mögliche Reaktionen ab.
Klappt beim Überqueren einer Straße z. B. super. Rot ich bleib stehen, Grün ich kann gehen. Also marschiere ich bei Grün los. Darüber denken wir nicht groß nach. Habe ich so gelernt … hat ja schließlich schon unzählige Male geklappt und konnte ich auch schon unzählige Male bei anderen erfolgreich beobachten.
Hatte ich aber beim Überqueren einer Straße entweder selber einmal einen Unfall oder habe einen Unfall beobachtet, verändert das unsere instinktiven Impulse. Früher bedeutete die grüne Ampel, ich kann loslaufen. Nach einem negativen Erlebnis ist diese Sicherheit erst einmal getrübt und so bedeutet die grüne Ampel erst einmal Vorsicht …
Grün = sicher … kann unser Gehirn nicht mehr so selbstverständlich assoziieren. Um mit dieser Unsicherheit umzugehen, wird die Lage daher erst einmal gecheckt. Vielleicht wird schon während der Rotphase alles genau beobachtet. Und dann beim losgehen weiterhin genau gescannt. Erst wenn man auf der anderen Seite angekommen ist, kehrt dann ein Gefühl von Sicherheit zurück.
Das übertragen auf den Vater bedeutet:
Durch den Schmerzensschrei … das Blut … die Not … spült sein Gehirn unerlöste Kriegsbilder hoch. Und das zusammen mit all den damit verbundenen alten Emotionen.
Flashback nennt man so was dann. Und die sind für die Betroffenen furchtbar. Denn bei einem Flashpack erlebt die Person intensiv und plötzlich traumatische Erlebnisse aus der Vergangenheit erneut, als würden sie im gegenwärtigen Moment stattfinden. Diese Flashbacks können durch Trigger wie bestimmte Gerüche, Geräusche oder Situationen ausgelöst werden.
Der Vater erlebt also zwei Situationen wie parallel. Die Erinnerungen, die sich anfühlen als wäre er wieder im Krieg und gleichzeitig steht sein weinendes Kind vor ihm.
Empathie und von Herzen kommendes Verständnis
Aus tiefster Empathie und von Herzen kommenden Verständnis gesprochen, muss man einfach anerkenne, dass dieser Vater nicht angemessen auf sein Kind reagieren KANN. Die Macht und die Wucht solcher grauslichen unerlösten Bilder ist einfach zu groß.
Und aus der gleichen tiefen Empathie und genauso von Herzen kommendem Verständnis sehe ich dann aber auch ein Kind, dass von all dem nichts weiß … dass all das nicht versteht … nicht verstehen kann … und gerade einfach nur jemanden braucht, der tröstet und pustet. Und bunte Pflaster hat.
Ich habe mit Erwachsenen, die das als Kind erlebt haben, bereits gearbeitet und durfte hier mehr erfahren über das innere Erleben eines kleinen Kindes im Angesicht eines solchen Vaters. Ich habe erzählt bekommen, wie ein Vater seinen Sohn hier als Weichei und Schande beschimpft hat und es oben drauf noch eine schallende Ohrfeige gab bevor der Vater wutentbrannt weg gegangen ist. Ich habe erzählt bekommen, dass ein Vater einfach still weggegangen ist und dabei geweint hat. Und ich habe erzählt bekommen, dass ein Vater vor den Augen des Kindes kollabiert ist und zuckend und wimmernd am Boden lag. Aus Scham, weil die anderen ihn so gesehen haben hat es Tage gedauert hat bis er wieder in der Lage war am Familienleben teilzuhaben.
Nicht immer ist Wut die Reaktion. Oft ist es Schmerz und Rückzug. Und immer ist es in irgendeiner Weise Dissoziation.
In diesem Moment geht Trauma von einer Generation auf die nächste über.
Denn ein Kind versteht nicht, was gerade passiert. Ein Kind weiß nichts von Flashbacks. Ein Kind weiß nur, dass es sich gerade weh getan hat und jemanden braucht, der oder die tröstet. Und pustet.
Da ein Kind nicht versteht was hier gerade passiert, macht es sich seinen eigenen Reim darauf. Und im Kindbewusstsein ist das immer: „Ich hab was falsch gemacht. Ich bin schuld, dass Papa jetzt so ist. Ich bin schuld, dass es Papa jetzt schlecht geht. Ich bin schuld, dass Papa jetzt weint.“ Und daraus leitet das Kind ab: „Ich bin selbst schuld, dass Papa mich nicht tröstet. Denn wenn ich richtig wäre, würde Papa richtig reagieren.“
Ein Kind denkt so.
Denn ein Kind kann noch nicht erkennen, dass der Vater ein Problem hat, dass nichts mit dem Hier und jetzt zu tun hat und dass er deswegen nicht angemessen reagieren kann. Ein Kind nimmt das Verhalten seiner Umgebung immer persönlich und sieht die Schuld daran bei sich.
Es ist wie es ist, weil ich bin wie ich bin. Wäre ich anders, wäre Papa anders.
Wäre ich tapfer, wäre Papa stolz auf mich.
Kinder übernehmen die Bewältigungsmechanismen ihrer Bezugspersonen
Und so übernehmen Kinder die Bewältigungsmechanismen ihrer Bezugspersonen. Denn das ist nun einmal das, was sie vorgelebt bekommen. Und sind die traumageprägt … tragen die Bezugspersonen unerlöstes Trauma in sich … gehen diese Mechanismen von einer Generation auf die andere über.
Für das Kind bedeutet das: Es abspaltet sich nun ebenfalls von seinen Emotionen und Empfindungen … ist ab jetzt tapfer … Und wird stolz darauf sein.
Und zahlt dafür einen hohen Preis: Es lernt dabei, hart gegen sich selbst zu sein. Es lernt dabei, das eigene Bauchgefühl zu ignorieren und den Fokus mehr nach Außen zu richten.
Genauso wie der Vater es im Krieg auch getan hat … tun musste um zu überleben.
Die gute Nachricht
Unser Gehirn, dieses so phantastische und faszinierende Organ, ermöglicht uns, diese alten transgenerationalen Muster wieder aufzulösen. Wie unser Gehirn das macht und wie Heilung neuroaffektiv gelingt, darüber werde ich in meinem nächsten Podcast ausführlich sprechen. Denn durch das heutige Wissen um das Wesen von Trauma müssen die alten Bewältigungsmechanismen nicht mehr transgenerational weitergegeben werden. Sie dürfen endlich heilen.
Und in meinen Augen ist es unsere Aufgabe … ist es die Aufgabe der Generationen, die ohne Krieg und in Sicherheit aufwachsen durften, dass sie durch uns endlich heilen dürfen … dass wir hinschauen und unsere heutigen Möglichkeiten nutzen um die Welt durch unsere Heilung zu einem friedlicheren Ort zu machen. Denn in meinen Augen ist das, was wir aktuell in der Welt sehen, u.a. eine Folge von unerlöstem transgenerationalem Trauma.