„So bin ich nicht! So will ich nicht sein! Und ich schäme mich so!“ Mit diesen Worten startete eine Klientin von mir in unsere gemeinsame Zeit. Sie hatte sich – nach eigenen Worten – wie eine waschechte Bitch verhalten als sie gemeinsam mit ein paar anderen Freundinnen bei der Auswahl eines Brautkleides dabei war.
Dieses Ereignis, das man ja aus unzähligen Hollywood-Filmen als DAS Freundinnen-Event kennt … dieses Ereignis, das man – aus Sicht der Braut – im besten Fall nur einmal im Leben erlebt … dieses Ereignis, indem man gemeinsam kichert … staunt … rumprobiert … und jede Menge Bubbeliges trinkt …
Und dann dieser so berührende Moment, wenn die künftige Braut das Gefühl hat, ihr Kleid gefunden hat und sich damit zum ersten Mal noch ein bisschen scheu der Welt zeigt … und dann der Moment wo alle wissen: Ja, DAS ist es. Das ist IHR Kleid.
Und in all der Leichtigkeit, Freude, Vorfreude, Nervosität kam in ihr die Bitch durch.
Meine Klientin war immer noch entsetzt über sich selbst, schämte sich ohne Ende und wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Und all das wollte sie sich anschauen.
Denn sie hatte sich in dem Moment wo es passiert ist, wie selbst dabei beobachten können, wie ihr Mund Dinge sprach, die sie eigentlich überhaupt nicht sagen wollte … und vor allem nicht so.
Wie kann es sein, dass sich unser Mund wie verselbstständigt?
Wie kann es sein, dass sich unser Mund wie verselbstständigt und wir das Gefühl haben, nicht eingreifen zu können? Ist ja schließlich unser Mund und über den sollten wir doch eine gewisse … nennen wir es mal … Macht haben.
Ja, diese Macht haben wir auch. Eigentlich. Nur sind manchmal die niederen Bereiche unseres Gehirns schneller als unser Neokortex, also das, was wir landläufig als unseren Verstand bezeichnen. Und schon rutscht uns was raus – und dann tut es uns leid und wir fangen an uns in Grund und Boden zu schämen.
Die niederen Bereiche unseres Gehirns
Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: die Bezeichnung „niedere Bereiche“ hat nichts aber auch gar nichts mit einer Hierarchie zu tun. Nieder bedeutet nicht schlechter, auch wenn wir seit Jahrzehnten darauf gedrillt worden sind, unseren Neokortex, also unseren Verstand als DAS Maß aller Dinge anzusehen. Leider ist auch das so ein Irrglaube, der sich extrem hartnäckig hält und in meinen Augen liegt hier die Wurzel vielen Übels.
Denn dieser Irrglaube hat dazu geführt, dass wir uns von den niederen Bereichen mehr und mehr abgeschnitten und selbst entfremdet haben.
Die niederen Bereiche sind – vereinfacht ausgedrückt – unser Limbisches System und vor allem unser Stammhirn.
Das Limbische System – wieder vereinfacht ausgedrückt – ist der Sitz unserer Emotionen und unser Stammhirn ist der Sitz unserer Empfindungen.
Und alleine diese kleine, feine Unterscheidung ist so wichtig. Denn landläufig sprechen wir meist von Gefühlen und meinen dann beides: unsere Emotionen und unsere Empfindungen. Dabei können beide komplett unterschiedlich sein und daher macht es so viel Sinn, beide getrennt zu beachten.
Was meine ich damit? Hierfür ein kleines Beispiel:
Phänomenologisch arbeiten
Bei meinem Gegenüber laufen Tränen. Das ist ein objektiv beobachtbares Phänomen. Wie das innere Erleben meines Gegenübers ist, kann ich nicht wissen. Ich kann nicht wissen, ob das Tränen der Rührung, der Freude oder der Trauer sind. Oder etwas ganz anderes.
Ja, anhand vom Kontext kann ich Hypothesen haben, die – je nachdem wie emphatisch ich beobachten kann, sehr nah an der Wahrheit liegen können. Aber knapp daneben ist nun einmal auch vorbei. Daher muss ich um meine Hypothese zu verifizieren, mein Gegenüber fragen.
Kleiner Sidestep: Das nennt man dann Phänomenologisch arbeiten. Was ich in meinen Sitzungen zu jeder Zeit tue. Das heißt, ich deute nicht. Ich beobachte, beschreibe was ich sehe und frage. Für meine Klienten ist das zunächst ungewohnt, denn wir alle sind es so gewohnt, dass unser Gegenüber meint zu wissen, was gerade bei uns los ist. Gerade in der Therapie findet das in meinen Augen viel zu häufig statt und führt meist nur zu einem: jeder Menge Missverständnissen und hinterlässt den Klienten … wieder einmal … in dem Gefühl nicht wirklich gehört und … wieder einmal … nicht verstanden zu werden.
Was hat all das nun mit dem scheinbaren Verselbstständigen des Mundwerks meiner Klientin zu tun?
Wir haben so verlernt auf unsere Impulse zu lauschen und diese wahrzunehmen, dass wir das Frühwarnsystem unseres Körpers nicht mehr mitbekommen. Wir bekommen dann erst wieder bewusst mit, wie „es“ scheinbar losgelöst von unserem bewussten Einfluss spricht.
Die Suche nach den Mitteilungen unseres Frühwarnsystem
Und so habe ich mich mit meiner Klientin auf die Suche nach den Mitteilungen ihres Frühwarnsystem gemacht. Meine Suche starte ich dann mit der Frage: „Wann hattest du denn das Gefühl, dass noch alles in Ordnung ist?“
Ich verlasse damit die Situation … ich gehe weg von dem Moment, wo die Bitch durchkam … und das aus einem gute Grund: hier ist außer noch mehr Selbstbeschämung nichts zu holen. Und diese Selbstbeschämung kann bis zum Selbsthass und damit zur Selbstzerfleischung gehen. Wem soll es also etwas nützen, hier weiter zu stochern und das weiter zu befeuern?
Viel spannender ist es die Uhr zurückzudrehen und den Film dann in Slow Motion wieder vorwärts laufen zu lassen.
Und dadurch die Chance zu haben, den niederen Bereichen des Gehirns, also dem Limbischen System mit seinen Emotionen und dem Stammhirn mit seinen Empfindungen zu lauschen. Auf diese Weise entdeckt man bisher Unentdecktes, nämlich all die vielen kleinen Abzweigungen, die wir vorher hätten nehmen können, wenn nicht unser Autopilot blind wie er nun einmal ist, dran vorbei gerauscht wäre.
Den Pfad der Selbstbeschämenden Gedanken verlassen
Durch die Entschleunigung entfaltet sich die Komplexität der Situation. Und das führte dazu, dass meine Klientin mehr und mehr den Pfad der Selbstbeschämenden Gedanken, die der Neokortex weiterhin … nun aber bewusst wahrnehmbar … produzierte, verlassen konnte. Sie fing an zu staunen, was da alles in ihr los war BEVOR die Bitch das Ruder übernahm.
Meine Gabe, komplett wertfrei zu lauschen, ermöglichte ihr, all das, was da an Empfindungen, Emotionen und Gedanken vorher da gewesen war, einfach mal ungefiltert sprudeln zu lassen. Sie konnte ihren Drei großen Hirnbereichen freien Raum geben und ohne die Befürchtung einer Zensur durch mich aussprechen, wie es ihr ergangen war.
Zu meiner Gabe, komplett wertungsfrei zu lauschen gehört auch, dass ich genauso wertungsfrei dann frage: „Und wie ist es jetzt gerade, all das einfach mal wahrnehmen und aussprechen zu können?“
Das ist wieder so eine Frage, die meine neuen Klienten erst einmal kurz stutzen lässt. „…Äh … gut.“ ist dann meist die Antwort. Und hier lade ich sehr explizit ein, sich Zeit zu nehmen und diesem „Wie ist es jetzt gerade …“ nachzuspüren … und diesem „Gut“ noch ein paar mehr Worte hinzuzufügen. Also zu beschreiben, wie dieses „Gut“ jetzt gerade wahrgenommen wird … wie das System ihnen gerade mitteilt, dass es „gut“ ist.
All das brachte bei meiner Klientin u.a. zu Tage, wie wichtig es ihr als die Trauzeugin der Braut war, dass dieser Tag für ihre Freundin besonders sein sollte … dass ihre Freundin im Mittelpunkt stehen sollte … wie sehr es ihr am Herzen lag, dass dieser Tag für ihre Freundin unvergesslich wird …
Das sich selbst gegenüber so bewusst anzuerkennen und in sich wirken zu lassen, ließ sie durchatmen und sie wurde weicher … die Härte, die zu Beginn durch die Selbstbeschämung und den Selbsthass da war, konnte anfangen zu schmilzen.
Hier verlangsame ich dann um auch das schmilzen, also die Reaktion des Stammhirns auf diese nun bewussten Gedanken ebenso bewusst wahrzunehmen. Dadurch bekommt dann auch der Neokortex die Chance mit zu verstoffwechseln, was gerade im Gesamtsystem passiert. Und wenn unser Neokortex mitbekommen kann, wie es im Körper ruhiger … weicher … entspannter wird, kann er sich auch entspannen und mal ausprobieren wie es ist, den Fuß ein bisschen vom Selbstbeschämungsgaspedal zu nehmen – sprich die Klappe zu halten.
In solchen Momenten haben wir dann alle 3 großen Hirnbereiche online und miteinander verbunden.
Und solche Momente brauchen dann ein paar Atemzüge Zeit, damit unser darin zumeist ungeübtes System die Wohltat wahrnehmen, genießen und auskosten kann. Denn genau das ist der Zustand nachdem wir alle uns so sehr sehnen: endlich ist Ruhe in uns … endlich sind wir in uns mit uns im Einklang.
Wenn die Gegenbewegung kommt
Wie geübt meine Klienten darin sind, solchen Momenten Raum zu geben, entscheidet darüber wie lange ich sie ungestört wahrnehmen, genießen und auskosten lasse. Denn eins ist so sicher wie das Amen in der Kirche: die Gegenbewegung kommt. Bei den einen früher, bei den anderen ein wenig später.
Und das ist ein grundlegendes Prinzip. Genauso wie nach dem Ausatmen das Einatmen kommt … genauso wie unser Herzmuskel sich entspannt um sich gleich darauf wieder anzuspannen … genauso funktioniert auch unser Nervensystem.
Das ist dann nicht falsch, es ist natürlich und gehört dazu. Auch dieses Selbstverständnis ist für viele zunächst ungewohnt. Der Verstand versucht nämlich gleich mal wieder seinen Senf dazuzugeben und uns einzureden, dass wir etwas falsch gemacht haben, wenn die Gegenbewegung kommt. Haben wir aber nicht. Das ist normal. Und gehört dazu.
Die Gegenbewegung zeigt sich meist darin, dass wieder irgendetwas aus der Selbstbeschämungs- oder Selbsthassecke kommt. Ich überhöre das dann scheinbar und bleibe dabei, dass es kurz davor aber richtig gut war. Ich bleibe mit dem Fokus auf all dem Guten was gerade passiert ist.
Warum ich das tue? Die Selbstbeschämung und den Selbsthass kennen wir. Hier entdecken wir nicht Neues. Das Gute hingegen ist neu und noch ungewohnt. Und das verdient Zeit.
Und so habe ich meine Klientin dann von da aus auf den Bitchmoment schauen lassen. Und das war, als ob man in einem dunklen Raum das Licht angeknipst hätte.
Sie konnte auf einem sehen, dass sie ihre Freundin schützen wollte. Und zwar vor dem Selbstdarstellungsdrang einer anderen Freundin. Diese andere Freundin ist frisch schwanger und fragt man sie, wie es ihr geht, ist das Thema für die nächsten Stunden klar gesetzt. Eine der anderen Freundinnen hatte den „Fehler“ gemacht, genau diese Frage zu stellen und bei meiner Klientin sind die Alarmglocken angegangen.
Dadurch, dass dieser Teil der Dynamik nun sichtbar werden konnte, konnte ihr bewusst werden, wie sehr sie sich in der letzten Zeit über den Selbstdarstellungsdrang der schwangeren Freundin geärgert hatte. Und den Ärger um des lieben Friedens willen jedes Mal runtergeschluckt hat.
Tja … und nun … da im Auto auf dem Weg zum Brautmodeladen … angefeuert durch das Trauzeuginschutzmandat … bahnte sich diese ganze gestaute Ladung aus ihr ungefiltert den Weg und die Bitch erstickte den die beginnende Detailbeschreibung der Morgenübelkeit im Keim.
Als ihr dann durch die Verlangsamung die Dynamik immer klarer werden konnte, konnte sie ohne jede Selbstbeschämung und ohne auch nur einen Anflug von Selbsthass anerkennen, warum sie so fies zu der schwangeren Freundin war. Und anerkennen, dass das wirklich fies war. Und nicht angemessen.
Nun da alle Karten auf dem Tisch lagen, wurde es in ihr ruhiger und wir konnten gemeinsam weiter forschen, warum sie so ärgerlich über Selbstdarstellungsdrang der schwangeren Freundin war und ist und warum sie das als Selbstdarstellungsdrang wahrnimmt.
Für sie war es berührend und entlastend nun so klar wahrnehmen zu können, warum sie in dem Moment zu so einer Bitch geworden ist und dass sich hier all der zuvor unbewusst weggedrückte Ärger Luft gemacht hat.
Der Schlüssel nicht in die Selbstbeschämungsfalle zu tappen, ist sich auf die Suche nach der Intention zu machen. Nach dem Wofür.
Aber warum beschämen wir uns überhaupt?
Die Dynamik hat ihre Wurzel – wie könnte es anders sein – in unserer Kindheit. Für ein Kind ist es im wahrsten Sinne des Wortes undenkbar, dass das Verhalten der Bezugspersonen falsch sein könnte. Für Kinder sind die Bezugspersonen das Universum von dem sie abhängig sind und daher tun sie alles in ihrer kleinen Macht stehende, dass das Universum heil wird. Und das einzige, was nun einmal in der Macht eines Kindes liegt, ist, sich selbst zum Problem zu erklären … sich selbst schlecht zu machen … Damit kann die Bezugsperson heil und damit sicher bleiben und diese Dynamik hat für das Kind noch einen weiteren Vorteil: wenn das Kind sich selbst als Problem erkennt, kann es an sich selbst arbeiten … kann versuchen besser zu werden … dann fühlt es sich nicht komplett macht- und hilflos der Situation ausgesetzt.
Und so zweifeln wir dann auch später unsere Wahrnehmung der Situation als allererstes einmal an und unterdrücken unsere Impulse. Wir schweigen, obwohl uns gerade gehörig was gegen den Strich geht. Und wenn wir dann objektiv betrachtet unangemessen reagieren und alle uns irritiert anschauen, bekommt der kindliche Glaube selbst das Problem zu sein, ja sogar recht.
Hier die wahre Dynamik zu erkennen … mitzubekommen, was genau uns in solchen Momenten stört … das dann sagen zu können und von einem Gegenüber gehört und ernst genommen zu werden, ist unser Weg raus aus der Selbstbeschämungsfalle.
Und dann kann neues Verhalten entstehen. Und dann können wir uns sogar ehrlich entschuldigen und mit der Freundin wieder in einen guten Kontakt kommen. Gefangen in der Selbstbeschämungsfalle ist das nicht möglich. Denn da sind wir nicht im Erwachsenen-Ich. Da sind wir nicht auf Augenhöhe mit unserem Gegenüber. Nur ist das die Ebene, die es für eine Klärung frei von Scham und Schuld braucht.