Objektkonstanz. Ich liebe Dich, aber grad mag ich Dich nicht

Heute geht es um ein Thema, das immer wieder in meinen Sitzungen auftaucht, wenn es um das Thema Partnerschaft geht:

Der Partner oder die Partnerin hat etwas getan, was meiner Klientin oder meinem Klienten gegen den Strich ging. Er oder sie schimpft wie ein Rohrspatz, regt sich auf und erzählt die Begebenheit in großer Detailtiefe. Am Gegenüber bleibt kein gutes Haar und zu dem Auslöser gesellen sich schnell weitere Beispiele, die aufzeigen, wo überall sonst der Partner oder die Partnerin eine fleischgewordene Zumutung ist. Das Drama wird immer größer und irgendwann fällt das Wort Trennung.

Ich stelle dann recht vorsichtig und sehr bewusst die Frage, ob er oder sie denn auch wenigstens eine gute Seite hat. Die Frage stelle ich nicht, um ihn oder sie in Schutz zu nehmen oder um der Erzählung ein wenig an Schärfe zu nehmen. Ich stelle sie, um ein Gefühl für die Kapazität meines Gegenübers zur Objektkonstanz zu bekommen.

Objektkonstanz? Was bitte ist denn das? Nun … u.a. darum geht es in diesem Podcast.

Ich werde ein bisschen erklären, was dieser Begriff bedeutet, … wie sich Objektkonstanz entwickelt … warum sie eine so entscheidende Rolle für all unsere Beziehungen spielt. Und ich mache zum Schluss auch einen kleinen Abstecher in meine Trauma-Schule und warum ich hier Menschen, die mit Menschen arbeiten die zugrunde liegenden Dynamiken vermittle.

Denn Objektkonstanz und die Fähigkeit, mit emotionaler Unsicherheit umzugehen, prägen nicht nur unsere Kindheit, sondern unser ganzes Leben. Sie bestimmen, wie wir uns in Beziehungen verhalten, wie wir mit Konflikten umgehen und wie sicher wir uns in der Welt fühlen.

Was genau ist Objektkonstanz?

Objektkonstanz bezeichnet die Fähigkeit, eine positive innere Vorstellung von einer Person – in der Regel einer Bezugsperson – aufrechtzuerhalten, auch wenn diese gerade abwesend ist oder – und das ist dann gerade im Erwachsenenalter wichtig – vorübergehend negativ wahrgenommen wird.

Hierzu zwei Beispiele, um zu verdeutlichen, was gemeint ist:

Ein kleines Kind, dessen Mutter den Raum verlässt, muss erst lernen, darauf zu vertrauen, dass sie bald zurückkommt. Es braucht Zeit und wiederholt gute Erfahrungen bis sich eine innere Sicherheit entwickelt, dass die Beziehung zur Mutter selbst dann stabil ist, auch wenn sie physisch nicht präsent ist.

Ein Paar streitet und er zieht sich danach tagelang in sein Schneckenhaus zurück, denn er kann ihre Nähe nicht mehr ertragen. Sie bekommt es mit der Angst zu tun, denn sie wird das Gefühl nicht los, dass die Partnerschaft auf der Kippe steht. Und so versucht sie alles, um ihn aus dem Schneckenhaus zu locken. Was die ganze Dynamik nur weiter befeuert. Er hat keinen Zugang zu dem Satz „Ich liebe Dich, aber grad mag ich Dich nicht.“ und für sie ist sein Rückzug gleichbedeutend mit „Das war’s!“

Vertrauen

Vielleicht ahnst du jetzt schon, worum es bei der Objektkonstanz geht: um Vertrauen. Und zwar um das Vertrauen, dass ich sicher bin … das insgesamt alles gut ist, auch wenn ich es gerade unsicher erlebe und es sich ungut anfühlt.

Diese Fähigkeit, eine positive innere Vorstellung von einer Person aufrechtzuerhalten, auch wenn sie vorübergehend negativ wahrgenommen wird, ist nicht angeboren, sondern entwickelt sich im Laufe der frühen Kindheit, typischerweise ab dem Alter von etwa zwei bis drei Jahren.

Sie hängt eng mit der Reifung des Gehirns zusammen, vor allem des präfrontalen Kortex. Das ist der Bereich, der für emotionale Regulation und Selbstkontrolle zuständig ist.

Doch das Gehirn entwickelt sich nicht isoliert, das heißt, diese Fähigkeit entsteht nicht einfach.  Es braucht hierfür die Interaktion mit der Umwelt … mit einem Gegenüber … und hier vor allem die Interaktion mit feinfühligen, eingestimmten und verlässlichen Bezugspersonen. Und es braucht wiederholt Erfahrungen, die sich GUT anfühlen. Wie der Volksmund schon sagt: Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und Worte allein reichen hier nicht.

Ko-Regulation

Hier kommt die sogenannte Ko-Regulation ins Spiel: Wenn Eltern ihrem Kind in stressigen oder unsicheren Momenten helfen, sich zu beruhigen, lernt das Gehirn, diese Fähigkeit zur Selbstberuhigung allmählich zu übernehmen.

Ohne diese unterstützende Begleitung kann sich die Fähigkeit zur Objektkonstanz nicht  entwickeln. Das Kind bleibt dann emotional abhängig von der unmittelbaren Anwesenheit der Bezugsperson und reagiert auf deren Abwesenheit mit Angst oder Unsicherheit.

Die Rolle der Eltern und Bindungsdynamik

Sichere Bindung in der Kindheit ist daher der Schlüssel zur Entwicklung von Objektkonstanz.

Kinder brauchen Eltern, die verlässlich, absehbar und feinfühlig auf ihre Bedürfnisse reagieren. Das bedeutet nicht, dass Eltern perfekt sein müssen – es geht vielmehr darum, dass sie zuverlässig sind. Sie zeigen dem Kind: “Ich bin da, ich sehe dich, und du kannst dich auf mich verlassen.”

Zuverlässig bedeutet in dem Zusammenhang auch, dass das Kind lernen kann, die Reaktionen der Bezugspersonen abzuschätzen. Wird ein Verhalten im einen Moment gelobt und im nächsten bestraft, ist das für ein Kind zutiefst verwirrend und verstörend. Ein Kind kann das aufgrund des Reifezustands seines Gehirns nicht verstehen, kann sich dieses Wechselbad nicht erklären oder irgendwie einsortieren. Es ist diesem emotionalen Chaos hilflos ausgeliefert und das hinterlässt das Kind unsicher und ängstlich.

Hierzu ein Beispiel:

Ein Kind malt ein Bild und zeigt es stolz seinem Vater. Der Vater ist jedoch gestresst und reagiert genervt: “Ich habe jetzt keine Zeit!” Ein Kind mit sicherer Bindung wird kurz traurig oder enttäuscht sein und vielleicht protestieren, hat aber die innere Sicherheit, dass Papa es trotzdem lieb hat. Vielleicht sucht es jetzt z. B. bei der Mutter oder einer anderen Bezugsperson Trost und Zuspruch. Es wird trotz dieser Begebenheit das nächste Bild wieder seinem Vater zeigen. Zwar ein bisschen vorsichtiger als beim letzten Mal, aber es konnte schon eine gewisse Objektkonstanz entwickeln.

Für ein Kind mit unsicherer Bindung hingegen wird in so einem Moment bestätigt: “Ich bin wieder nicht gut genug. Papa liebt mich nicht.” Es fehlt ihm die Fähigkeit, das Verhalten des Vaters als vorübergehend und nicht beziehungsgefährdend zu interpretieren. Und dieses Kind wird auch nicht Hilfe bei einem anderen Erwachsenen suchen, denn es hat die Erfahrung gemacht, dass es diese Hilfe nicht finden wird. Es bleibt alleine mit seiner Enttäuschung, seiner Verwirrung und dem Schmerz.

Spaltung als Schutzmechanismus

An diesem Punkt ist es wichtig zu verstehen, wie ein Kind … wie jedes Kind … so eine  Situation in sich löst. Und in der Lösung, die ein Kind hier instinktiv findet, steckt viel angeborene Weisheit drin. Um die zu entdecken und zu verstehen, muss man ein bisschen genauer hinschauen. Und das tue ich jetzt.

Denn die im Ursprung so sinnvolle Lösung des Kindes ist der Quell der späteren Schwierigkeiten in jeder Form von Partnerschaften. Dann können wir Jahre später im Streit nicht das Herz für den Partner oder die Partnerin weiter offen halten … dann nehmen wir alles viel zu schnell persönlich … dann ertragen wir unangenehme Situationen nicht und haben das Gefühl einfach nur WEG zu wollen.

Es geht um die Dynamik der Spaltung.

Spaltung ist ein Schutzmechanismus, den Kinder nutzen, wenn sie in einer emotional schwierigen Beziehung zu ihren Eltern stehen. Sie bedeutet, dass das Kind entweder die Bezugsperson in “gute” und “böse” Aspekte aufteilt oder – und das passiert am häufigsten – sich selbst zum Bösen oder Schlechten macht, um die Beziehung zu schützen … also um die Bezugsperson weiterhin als gut wahrnehmen zu können.

Wie macht ein Kind das? Und warum?

Für ein Kind sind die Eltern das Universum, denn Kinder sind – besonders in den ersten Lebensjahren – vollkommen abhängig von ihren Bezugspersonen. Und so kann ein Kind sie nicht als “böse” oder gar gefährlich wahrnehmen. Denn das würde bedeuten, dass das Universum böse und gefährlich ist. Und das ist einfach zu groß … zu bedrohlich … zu hoffnungslos.

Also spalten sie die schwierigen Erfahrungen ab und halten die Eltern innerlich als “gut” aufrecht – oft um den Preis, sich selbst als “böse” oder „schlecht“ zu erleben. Ein Kind erklärt sich das Verhalten der Bezugspersonen dann in etwa so: “Mama ist nur so streng, weil ich schlecht bin. Wenn ich besser wäre, wäre Mama lieb.”

Das Problem:

Diese Dynamik führt dazu, dass das Kind ein negatives Selbstbild entwickelt, geprägt von Scham und Selbstabwertung, bis hin zum Selbsthass. Es opfern sein eigenes Wohlbefinden und seine Selbstliebe, um die Beziehung zu den Eltern stabil zu halten. Diese innere Spaltung kann sich später in Form von Selbstkritik, ständiger Anpassung oder dem Gefühl, “nie genug” zu sein, zeigen.

Eine andere Art, wie Kinder dieses Dilemma durch Spaltung lösen, ist das Monster unter dem Bett oder im Kleiderschrank. Dadurch lagert das Kind seine Angst, seine Verwirrung, seine Not aus. Hier ist es für Eltern wichtig zu verstehen, dass das Monster eine Art Stellvertreter für die innere Not des Kindes ist. Daher ist – im wahrsten Sinne des Wortes – Licht unters Bett oder in den Kleiderschrank zu bringen, allein nicht ausreichend. Das liebe- und verständnisvoll zu tun, ist ein erster, wichtiger Schritt. Aber hier braucht es zusätzlich achtsames Nachfragen, um das Licht auch in zugrunde liegende Dynamik zu bringen.

Die Perspektive des NARM-Modells

Das Neuroaffektive Beziehungsmodell, kurz NARM, bietet eine wertvolle Perspektive auf diese Prozesse. NARM hilft zu verstehen, wie wir als Kinder Überlebensstrategien entwickelt haben, um mit schwierigen Bindungserfahrungen umzugehen. Diese Überlebensstrategien prägen unser Selbstbild und unsere Kapazität zu jeder Art von Beziehungen – also egal ob beruflich oder privat – oft ein Leben lang.

Einer der zentralen Aspekte im NARM ist die Arbeit mit Scham. Kinder, die sich selbst innerlich „böse“ oder „schlecht“ gemacht haben, um die Eltern als „gut“ zu erhalten, tragen diese tiefe Scham zumeist unbewusst ihr Leben lang in sich. Sie glauben von sich auch über die Kindheit hinaus, dass sie „falsch“ sind oder „nicht genug“ oder es nicht besser verdient haben, und dieser Glaube beeinflusst ihre Beziehungen und ihr Verhalten auch als Erwachsene.

Die gute Nachricht: diesen alten Glauben kann man dank der Neuroplastizität des Gehirns mit einem eingestimmten und in diesen Grundlagen ausgebildeten Gegenüber behutsam auflösen. Auch hier gilt: Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, aber es ist immer wieder erstaunlich wie schnell ein ausgereiftes Gehirn auf positiv korrigierende Erfahrungen reagiert und Neues entstehen kann.

In der therapeutischen Arbeit geht es darum, zunächst diese alten Muster zu erkennen und Mitgefühl für sich selbst zu entwickeln. Und zwar Mitgefühl für das Kind, das damals zum Schutz der Bindungsbeziehung nicht anders konnte.

Bitte lass das, was ich jetzt sage mal auf dich wirken und spür nach, was da innerlich in dir passiert:

Indem wir uns heute für schlecht … klein … dumm … zu langsam … zu schnell … nicht liebenswert … anstrengend … oder was auch immer halten, halten wir die alte Dynamik am Leben. Indem wir weiterhin so mit uns selbst umgehen, schützen wir weiterhin die alten Bindungsbeziehung. Und das dann zum Schaden der gegenwärtigen Beziehung.

Denn ein ausgewachsenes Gehirn kann – wenn es hier nachreifen durfte – erkennen, dass der Partner gerade ein bisschen Zeit im Schneckenhaus braucht um sich zu sortieren und dann wieder in Kontakt gehen zu können. Es kann erkennen, dass es dem anderen gerade einfach nur zu viel ist und die Situation vom Ich trennen. Also nicht Ich bin zu viel, sondern die Situation ist gerade zu viel.

NARM hilft, die ursprünglichen Schutzstrategien zu verstehen und die darin liegende Weisheit wertzuschätzen – schließlich haben sie dem Kind damals geholfen, emotional zu überleben. Gleichzeitig unterstützt das Modell dabei, neue, gesündere Muster zu etablieren, die auf Selbstakzeptanz und realistischen Beziehungsdynamiken basieren.

So weise

Vielleicht wunderst du dich, dass ich von Weisheit spreche, wenn ich die kindlichen Bewältigungsstrategien beschreibe. Schließlich sind sie heute im Erwachsenendasein ja überwiegend nervig, störend, unangenehm und zumeist unangemessen.

Ich tue das, weil es ist mir ein Herzensanliegen ist, hier ein wenig Milde in all die Selbstkritik und all den Selbsthass zu bringen. Denn wenn man sich bewusst macht, was für eine Lösung man als Kind ganz aus sich alleine heraus für ein Problem, dass man nicht einmal verursacht hat, gefunden hat, lenkt das den Blick weg von all den Defiziten im Hier und Jetzt.

Dann kann man sehen, dass es im Ursprung echt clever war und dem Schutz der Bindungsbeziehung gedient hat. … was im Kern ein Ausdruck von purer, kindlicher Liebe ist. Dann kann man beginnen zu verstehen, warum ein Streit mit dem Partner oder der Partnerin einen heute so dermaßen in eine innere Not stürzt – ohne sich dafür noch zusätzlich innerlich zu zerfleischen, dass man in solchen Momenten keine Liebe empfinden kann.

Das was wir aber heute tun, ist die Lösung verachten.

Heute beschämen wir uns selbst ob unserer Dummheit … beschimpfen wir uns selbst, weil wir es wieder mal nicht hinkriegen … heute stellen wir die gesamte Partnerschaft in Frage, nur weil das Gegenüber gerade nicht so ist, wie man ihn oder sie aber haben will … heute bewerben wir uns nicht auf Jobs, weil die Stimme in unserem Kopf uns sagt, dass wir das eh nicht hinbekommen … heute sind wir krankhaft eifersüchtig und klammern, wohl wissend, dass das auf die Dauer nicht gut sein kann … heute machen wir unser Gegenüber schlecht und suchen nach Bestätigung, dass wir diesmal die Guten sind … heute spalten wir weiter und merken es nicht einmal …

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Fähigkeit zur Objektkonstanz ein zentraler Baustein für emotionale Stabilität und gesunde, gelingende Beziehungen ist.

Ehrlich sagen zu können: „Ich liebe dich, aber grad mag ich dich nicht.“ und als Gegenüber das „Ich liebe dich“ in dem Satz hören und darauf vertrauen zu können, wäre das Entlastung pur für angespannte Partnerschaften. Auf dieser Grundlage könnte gemeinsam Neues entstehen … anstelle Altes immer und immer wieder zu wiederholen.

Dann könnte man den anderen in seinem Schneckenhaus lassen und darauf vertrauen, dass er oder sie trotzdem noch da ist. Dann müsste man wahrscheinlich nicht einmal mehr ins Schneckenhaus gehen, weil man den oder die andere gerade nicht erträgt. Dann könnte man im selben Raum bleiben, den anderen gerade doof finden und sich trotzdem innerlich sicher fühlen.

Coaches, Therapeuten oder Berater, die um diese zugrunde liegende Dynamik der Spaltung zum Schutz der Bindungsbeziehung wissen, erkennen diese Momente der sich im Hier und Jetzt wiederholenden Spaltung und können ihr angemessen begegnen. Sie können ihren Klienten und Klientinnen helfen BEIDES zu sehen. Also das „Ich liebe Dich.“ UND das „Aber gerade mag ich Dich nicht.“ Und das ist DAS Antidot … das Gegenmittel … gegen Spaltung: die Fähigkeit das Gute und das Schlechte nebeneinander zu sehen.

Aber das haben wir alle nicht in die Wiege gelegt bekommen. Das lernen wir im Laufe unseres Lebens im Kontakt mit einem eingestimmten, empathischen Gegenüber.

Wenn du das lernen und dieses Wissen vertiefen möchtest, dann komm in meine Trauma-Schule. Hier lernen Menschen, die mit Menschen arbeiten, diese Dynamiken in der Tiefe zu verstehen und wie sie dieses Wissen in ihren Gesprächen anwenden.

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