Wie unsere Kindheit diesen Satz prägt
In Podcast Nr. 28, dem ersten Teil dieser kleinen Serie habe ich den Satz „Mir kann eh keiner helfen.“ vor dem Hintergrund pränataler Erfahrungen beleuchtet. Hier steckt die Forschung zwar noch in den Kinderschuhen, aber das Bewusstsein, dass wir bereits im Bauch fühlende und uns an Erfahrungen aus dieser Zeit erinnernde Wesen sind, wächst und findet immer mehr Beachtung.
Das NARM-Modell von Dr. Laurence Heller bietet hier einen Lösungsansatz, um selbst vorsprachliche Erinnerungen nachhaltig und sanft aufzulösen. Schließlich sind wir im Kern einander zugewandte Wesen und die Aussage „Mir kann eh keiner helfen.“ ist Ausdruck einer auf negativen Erfahrungen basierenden Verzerrung.
Solltest du den Satz also von dir kennen: es macht zutiefst Sinn hier ein wenig zu forschen und sich die Gabe, auf andere Menschen zuzugehen und vertrauensvoll um Hilfe und Unterstützung bitten zu können, wieder zurückzuerobern. Denn sie ist da und wartet schlummernd nur darauf, wieder zum Leben erweckt zu werden.
Welche Rolle unsere ersten Lebensjahre, also nachdem wir das Licht der Welt erblickt haben, bei dieser Verzerrung spielen, darum geht es nun in Teil II.
Denn hier zu verstehen, welchen Einfluss die damaligen Reaktionen unserer Umgebung auf unser Selbstbild und unsere Wahrnehmung der Welt haben, trägt die Lösung bereits in sich. Wenn wir verstehen können, warum wir ticken wie wir ticken, tun sich ganz von selbst Lösungs- und Veränderungsmöglichkeiten auf. Und Selbstzweifel und Scham können … endlich … in den Hintergrund treten.
Wir Menschen werden als Nesthocker geboren
D.h. wir sind unsere ersten Lebensjahre darauf angewiesen, getragen und versorgt zu werden. Wir brauchen die Hilfe unserer Umgebung, um zu überleben, um zu wachsen und zu gedeihen. Und so wenden wir uns instinktiv unserer Umgebung zu.
Ein Baby, dass den Magen leer und die Hose voll hat, teilt dies seiner Umgebung lautstark mit. Schreien ist seine Art mit seinen Bezugspersonen zu kommunizieren. Eingestimmte Bezugspersonen erkennen das zugrunde liegende Bedürfnis und sorgen für Abhilfe. So lernt das Baby: „Ich habe ein Bedürfnis … oder ein Problem … und wenn ich um Hilfe bitte, bekomme ich eine Hilfe, die mir auch wirklich hilft.“
Aufgrund dieser Erfahrung lernt das kleine Wesen aber noch etwas anderes … für das spätere Leben nicht minder wichtiges: es lernt sich auf- UND wieder abzuregen.
Denn uns ist die grundsätzliche Fähigkeit zu diesem Wechsel zwar in die Wiege gelegt worden, aber sie wird erst durch die Interaktion mit unserer Umgebung im Gehirn aktiviert und verfestigt sich mit jeder Wiederholung.
D. h., wir können uns zwar ganz alleine aufregen – und alle Eltern wissen hier ziemlich genau, was ich meine -, aber um uns wieder abzuregen brauchen wir ein zweites Nervensystem, dass uns wie eine Art Leuchtturm den Weg weist. Wir brauchen die Interaktion mit einem Gegenüber das uns versichert: „Es ist alles gut. Du kannst Dich wieder entspannen. Das Problem ist weg. Jetzt ist es wieder gut.“
Mit jeder Wiederholung dieser positiven Erfahrung festigt sich nicht nur das Band zwischen dem Baby und seinen Bezugspersonen. Jede Wiederholung verfestigt auch die Nervenbahnen im Gehirn und was Anfangs ein unübersichtlicher Trampelpfad unter vielen anderen war, kann so mit der Zeit vom Feldweg zum Weg und dann zur Straße und Autobahn werden.
Darum ist eine zeitnahe Reaktion so wichtig
Das erklärt, warum das Gehirn eines Neugeborenen gerade in den ersten Lebenswochen und -monaten so schnell, also zeitnah eine Reaktion braucht. Denn in dem kleinen Gehirn feuert es ohne Unterlass, da ja alles neu ist und es entstehen unzählige Trampelpfade gleichzeitig. Das Gefühl von Kleidung auf der Haut … selber atmen … saugen … schlucken … verdauen … Licht … Geräusche … auf einmal Platz, um sich zu bewegen … Hose voll … Bauch leer … liegen … getragen werden … müde werden … wach werden … unterschiedliche Stimmen … all die Gesichter dazu …
Wenn man sich bewusst macht, was so ein kleiner Körper und dieses kleine Gehirn in dieser Zeit alles gleichzeitig leistet, kann man nur staunen – und selbst still werden. Dann sagt einem allein der gesunde Menschenverstand, dass es in der Nähe eines Neugeborenen beschaulich zugehen sollte.
Liegen aber in all den parallel feuernden Synapsen Reiz und Reaktion zeitlich nicht nah genug beieinander, kann hier keine sinnvollen Verbindung entstehen, geschweige denn sich festigen. Denn wie soll das noch unreife Gehirn erkenne, was hier zusammengehört? Es verknüpft das naheliegende, um schnellstmöglich wieder den Zustand der Kohärenz zu erreichen, also wieder Ruhe zu finden.
Damit sich in all dem Chaos aus Reizen das Richtige verbindet, ist aber nicht allein das richtige Timing so wichtig,… die immer gleichen Reaktionen sind ebenso wichtig. Je schneller und einfacher das kleine Gehirn hier durch verlässliche, stimmige und positive Wiederholungen stabile Nervenbahnen bauen kann, um widerstandfähiger wird das Gehirn werden.
Hier werden die Weichen für das gesamte Leben gestellt.
Ein Gehirn, dass von Anfang an wiederholt lernen durfte, dass zwischen einem Reiz, also z. B. Windel unangenehm nass, der Kommunikation mit der Umgebung durch Schreien und der Lösung in Form einer frischen Windel keine längeren Phasen der Not und des Alleinseins waren, bilden genau diese Synapsen aus. Das Baby kann dann lernen, sich auf- und wieder abzuregen … es kann lernen, ein eigenes Bedürfnis wahrzunehmen und zu kommunizieren, dass es Hilfe braucht … es kann lernen, dass die Interaktion mit der Umgebung hilfreich und angenehm ist … und das sogar auch noch alles gleichzeitig.
Ein Irrglaube
Kleiner Einschub am Rande: das erklärt finde ich, warum es ein Irrglaube ist, dass man einen Säugling verwöhnen würde, wenn man immer gleich reagiert. Bis zum Alter von 6-8 Monaten kann man gar nicht genug dieser positiven Verknüpfungen bauen. Erst wenn die da sind, kann man sich anfangen Gedanken über so Sachen wie Frustrationstoleranz zu machen. Aber bitte nicht vorher! Frustig wird das Leben von ganz alleine. Ein liebevoller, eingestimmter und achtsamer Kontakt in den ersten 6 Lebensmonaten ist das beste und in meinen Augen wichtigste Rüstzeug, dass Eltern ihren Kindern mit auf den Lebensweg geben können.
Schnell, angemessen und stimmig auf das Weinen eines Säuglings zu reagieren, ist genau das, was das noch so unreife Gehirn des kleinen Wesens braucht. Dann bilden sich aus diesen guten Erinnerungen, gute stabile belastbare Straßen und Autobahnen. Und das hat NICHTS … aber auch gar nichts mit verwöhnen zu tun.
Und noch ein Irrglaube
Und – ich nutze die Gelegenheit und räume gleich mit noch so einem Irrglauben auf: ein Säugling kann – aufgrund des Reifegrades seines Gehirns – hier auch nicht bewusst manipulieren. Die Aussage „Das macht er oder sie doch mit Absicht.“ ist nur eines: nämlich falsch. … Die Gehirnbereiche, die für eine Absicht zuständig sind, sind noch nicht so weit ausgebildet, dass sie in den Prozess involviert sind. Alles, was in dieser Lebensphase passiert, ist instinktiv. Reiz – Reaktion. Geschichte erzählt.
Dieses Prinzip greift bei guten Erfahrungen genauso wie bei unguten.
Das gleiche Prinzip kann also dazu führen, dass wir uns später im Leben willkommen, geborgen und sicher fühlen und darauf vertrauen, dass andere uns helfen können. Und es kann dazu führen, dass wir uns später alleine, isoliert und ängstlich erleben und das Gefühl in uns tragen, dass uns eh niemand helfen kann.
Denn haben wir wiederholt die negative Erfahrung gemacht, dass wir bei Hose voll und Bauch leer zwar durch Schreien Kontakt zu unserer Umgebung aufgenommen haben, aber dann keine rasche und/oder stimmige Abhilfe erfolgte, wird DIESER Trampelpfad mit der Zeit vom Feldweg zum Weg und dann zur Straße und Autobahn in unserem Gehirn. Dann biegen wir später automatisch in die Straße mit dem „Mir kann eh keiner helfen.“-Straßenschild ein, wenn sich in uns ein Bedürfnis meldet.
Ein Wunder der Natur
Dabei ist dieses Vom-Trampelpfad-zur-Autobahn-Prinzip im Kern wirklich genial. Denn – und hier kann man gut in dem Bild bleiben – sich über einen Trampelpfad vorwärts zu bewegen ist mühsam und daher anstrengend.
Unser Gehirn liebt aber Kohärenz, also den Zustand, wenn alles passt und leicht geht. Und auf einer geteerten Straße oder Autobahn geht es nun einmal leichter. Hier können die Informationen fließen, wenig bis gar nichts stört, es gibt keine Ampeln und Stoppschilder und wir brauchen kaum Energie. Solltest du einen Tempomat in deinem Auto haben, am besten noch einen Abstandstempomaten, weißt du was ich meine. Daher greift unser Gehirn bevorzugt auf bereits vorhandene Nervenautobahnen zurück und daher tun wir uns auch so schwer damit, von alten Gewohnheiten zu lassen.
Wir erleben nie wirklich etwas komplett Neues
Hierzu ist eins noch wirklich wissenswert: wir erleben nie wirklich etwas komplett Neues, wir ergänzen und erweitern bereits Erlebtes. D.h., sobald unser Gehirn in einer Situation schon nur eine gewisse Ähnlichkeit zu bereits gemachten Erfahrungen erkennt, greift es auf die alte Erfahrung zurück und knüpft dann da an.
Denn es wäre pure Energieverschwendung wenn wir jedes Mal, wenn wir über die Straße gehen wollen oder aufs Fahrrad steigen, alles neu lernen und zusammensetzen müssten. So aber greifen wir auf unser Wissen von unzähligen Straßenüberquerungen oder Fahrradtouren zurück und müssen diesmal nur noch entscheiden, ob wir bei Rot gehen oder fahren, weil grad kein Auto und kein Kind, dem wir ja Vorbild sein wollen, in Sichtweite ist.
Dieses automatische Verknüpfen und Zurückgreifen auf bereits gemachte Erfahrungen erklärt warum wir im Außen keinerlei reale Bedrohung oder Gefahr objektiv erkennen müssen um uns subjektiv innerlich mies zu fühlen. Das Gehirn hat aufgrund von irgendetwas irgendeine Verknüpfung erstellt und schon macht das Nervensystem Kapriolen. Schon klopft das Herz … werden die Hände nass … die Knie weich … und schon fehlen einem die Worte.
Auch das ist ein Aspekt, den ich an der NARM-basierten Arbeit so schätze und liebe.
Ich muss als Therapeutin nicht wissen, was genau passiert ist, also auf welche Erfahrungen das Gehirn meines Gegenübers da gerade zurückgreift. Und so muss mein Klient oder meine Klientin mir nicht erklären können, warum gerade passiert was gerade passiert.
Ich folge den Informationen des Nervensystems und das signalisiert gerade Aufruhr. Wie das Nervensystem dies signalisiert, nennt man Affekte (hier kommt übrigens das „A“ in NARM her … denn NARM steht für Neuroaffektives Relationelles Modell).
Affekte erzählen die wahre Geschichte
Und diese Affekte verraten uns NARM-Therapeuten mehr über das, was in der Kindheit vorgefallen ist, als jede erzählte Geschichte. Denn Geschichten, gerade aus der frühen Kindheit, basieren – logischerweise – nahezu ausschließlich auf Hörensagen. Auf der Sprachebene gibt es aus dieser frühen Lebensphase keinerlei Erinnerung, denn der dafür verantwortliche Hirnbereich reiht sich erst mit ca. 1 ½ Jahren in die Informationsverarbeitung mit ein. Die Erinnerungen aus dieser vorsprachlichen Zeit sind durchweg körperlich und daher erzählt der Körper die wahre Geschichte.
Für fast alle mit denen ich bisher arbeiten durfte, ist, das zu erleben, schier unglaublich. Und zutiefst entlastend und wohltuend.
Endlich ein Gegenüber zu haben, dem man sich nicht erklären können muss … dem man keine Erklärung, die dann auch noch Sinn macht, liefern muss, damit es weitergehen kann … ein Gegenüber … das nicht ungeduldig wird oder versucht etwas rein zu interpretieren oder gar vorzugeben … tut vor allem eines: einfach gut.
Die Sprache unserers Körpers wieder lernen zu verstehen
Denn: wir alle haben entlang unseres Lebensweges mehr oder weniger verlernt, die Sprache unseres Körpers zu verstehen und ihr zu lauschen.
Wenn wir nicht wiederholt erleben durften, dass den von unserem Körper durch Empfindungen und Emotionen signalisierten Bedürfnissen stimmig begegnet wurde, konnten wir kein Vertrauen in unsere eigenen Empfindungen und Emotionen aufbauen. …
Wenn uns hier aufgrund von Ungeduld vom Außen erklärt wurde, was wir fühlen und warum … ohne uns die Zeit zu lassen, es selbst herauszufinden, dann bleibt die Sprache unseres Körpers für uns auch später im Leben ein Buch mit sieben Siegeln. Dann fühlen wir uns unseren eigenen Empfindungen und Emotionen später im Leben wie hilflos ausgeliefert … und dann schneiden wir uns verständlicherweise mehr und mehr von ihnen ab … indem wir versuchen sie zu verdrängen und zu unterdrücken.
Dann verstehen wir uns selbst nicht und fühlen uns auch von Gott und der Welt unverstanden. Dann haben wir auch später im Leben das Gefühl, dass uns eh niemand helfen kann.
Die gute Nachricht: die neuroaffektive Arbeit hilft dem Gehirn aufgrund von sogenannten „korrigierenden Erfahrungen“ im Hier und Jetzt neue Verknüpfungen zu bauen. Und dank der Neuroplastizität unseres Gehirns, also der Fähigkeit noch bis ins hohe Alter neue Verbindungen zu bauen, können so alte Autobahnen im Gehirn nachhaltig stillgelegt und neue Autobahnen gebaut werden.
Dann erleben wir ein Gegenüber auf einmal als hilfreich und die Hilfe sogar auch noch als stimmig und angenehm. Dann können entlang der der „Mir kann eh niemand helfen“-Autobahn viele neue Abzweigungen entstehen und wer weiß wo einen dann all die neuen Straßen noch hinführen werden?
Sollte ich dich neugierig auf eine eigene Forschungsreise gemacht haben, kann ich dich nur von Herzen ermutigen: such dir einen NARM-Therapeuten in deiner Nähe. Mittlerweile gibt es viele, die mit diesem Ansatz arbeiten.
Und solltest du Lust bekommen haben, auf weitere Einblicke in die Neuroaffektive Welt, dann abonniere am besten gleich meinen Podcast Kanal oder trag dich auf meiner Homepage in meinen Newsletter ein. Dann verpasst du auch keine Neuigkeiten rund um meine Trauma-Schule.