Das sind ja alles eh nur Luxusprobleme! Der Mythos des Normalen

Im heutigen Podcast geht es mir um Luxusprobleme und ich werde einem alten Irrglauben zu Leibe zu rücken. Denn es macht in vielerlei Hinsicht Sinn diese sogenannten Luxusprobleme endlich ein bisschen ernster zu nehmen und sie nicht einfach abzutun.

Während ich den Text für diesen Podcast schreibe, sitze ich auf der Fähre vom spanischen Festland auf die Kanaren. Irgendwo tief unten im Bauch dieser riesigen Fähre fahren unser Camper und unsere Zwei Motorräder fest verzurrt mit. Wie schon im letzten Jahr verbringen wir die Wintermonate auf den Inseln.

Und während ich hier sitze und aus dem Fenster auf das vorbeigleitende Meer schaue, bin ich zutiefst dankbar. Und mir wird bewusst: es war ein langer Weg. Nicht der Weg von Bayern nach Südspanien um in Cadiz die Fähre zu nehmen. Das waren nur Kilometer.

Ich meine den Weg raus aus den tiefen Strudeln des komplexen Traumas, dass mich schon mein ganzes Leben lang begleitet … mich eng und ängstlich gemacht hat … hin zu dem Leben, das ich heute führe. Und mir wird bewusst: alles war gut und richtig.

Der Satz „Man muss das Leben vorwärts leben, um es rückwärts zu verstehen“ ist zutiefst wahr. Vor allem die letzten Jahre habe ich die Hausaufgaben gemacht, die mir das Leben aufgetragen hat. Ich habe Aufräumarbeiten entlang meiner Lebenslinie gemacht.

Aufräumarbeiten entlang der Lebenslinie

Wir alle bekommen solche Hausaufgaben vom Leben. Uns alle fordert das Leben auf hinzuschauen und aufzuräumen. Nur leider verweigern sich viele ihren Hausaufgaben. Und wie schon in der Schule geht das nicht lange gut, es fällt einem irgendwann einmal auf die Füße. Im Leben nennt man das dann Krise.

Und so eine Krise kann viele Gesichter haben. Krankheit, Jobverlust, Scheidung, Burnout … das Leben ist hier sehr ideenreich, wenn es uns auf etwas aufmerksam machen möchte. Und das Leben ist hier auch sehr hartnäckig. Denn nicht wir entscheiden, wann wir unsere Lektion gelernt haben. Ich habe schon mehr als einmal in meinem Leben gedacht, jetzt hab ich es verstanden. Und dann kam das gleiche Thema in neuem Gewand wieder um die Ecke und ich musste noch eine Runde drehen. Das war teilweise ziemlich zermürbend und ich habe mehr als einmal in den Himmel geschaut und gehadert.

Warum erzähle ich dir all das heute?

Weil ich einem alten Irrglauben zu Leibe rücken möchte. Nämlich dem Irrglauben, dass solche Aufräumarbeiten entlang der Lebenslinie unnötiger Schnickschnack sind … dass das nur jemand machen muss, der Probleme hat … der krank ist. Otto Normalverbraucher, der fest im Leben steht … einen guten Job … eine Familie … eine Immobilie hat, braucht so was nicht. Er oder sie hat ja nix. Und wenn, sind das ja nur Luxusprobleme. Das ist normal und gehört dazu.

Das ist ein Irrglaube!

Der sich leider nach wie vor hartnäckig hält. Und daher wird es Zeit ihm endlich den Gar auszumachen. Denn dieser Irrglaube erzeugt viel Leid, das so nicht nötig wäre. Und das, weil viele es noch nicht besser oder anders wissen.

Aber der Reihe nach.

Lass mich dir erst einmal eine Frage stellen. Ich nenne dir gleich 3 Aussagen, die Menschen so oder anders über ihre Kindheit machen. Was meinst du, welche der Drei Aussagen könnte ein Auslöser sein, um einen Termin … sagen wir mal … bei mir für ein paar Einzelsitzungen zu machen:

  1. Ich hatte eine glückliche Kindheit mit vielen Möglichkeiten und jeder Menge Freiheiten.
  2. Ich hatte eine normale Kindheit. Sie war weder besonders glücklich noch besonders schwierig.
  3. Ich hatte eine schwierige Kindheit.

Also … was meinst du?

Wer sollte mich mal anrufen?

Die glückliche, die normale oder die schwierige Kindheit? Lass mich raten, du würdest jemandem mit einer schwierigen Kindheit meine Kontaktdaten geben.

Das ist eine gute Idee, aber gib sie den anderen beiden bitte auch.

Warum das?

Weil diese Menschen unter sogenannten Luxusproblemen leiden und nicht ahnen, dass das keine Luxusprobleme sind, sondern Verzerrungen des Ichs. Und dass die nicht sein müssen.

Luxusprobleme: Was ist das?

Was sollen diese Luxusproblemen bitte schön sein? Hier ein paar Beispiele und beobachte beim Zuhören doch parallel deine innere Reaktion auf meine kleine Aufzählung.

Zu den sogenannten Luxusproblemen gehört u.a. Unzufriedenheit … Grübelei … Schlafstörungen …  Konzentrationsschwierigkeiten … Selbstzweifel … Sprachlosigkeit in Momenten wo man eigentlich viel zu sagen hätte … die kleinen alltäglichen Süchte, wie Zigaretten, das allabendliche Gläschen Wein, die Omnipräsenz des Handys … nicht Nein sagen können … Eifersucht … Unruhe … um nur ein paar zu nennen.

Ich selber war viele Jahre meines Lebens felsenfest davon überzeugt, dass ich im Vergleich zu vielen anderen da draußen wahrlich nur Luxusprobleme habe. Hätte man mich damals gefragt, hätte ich mich in Rubrik 2, also die normale Kindheit … weder besonders glücklich noch besonders schwierig … eingestuft. Ich hatte immer ein Dach über dem Kopf, ich hatte immer genug zu essen … ich wurde nie geschlagen … ich hatte mein eigenes Zimmer … habe zum Abi ein Auto geschenkt bekommen … meine Eltern haben sich erst scheiden lassen, als ich selbst schon verheiratet war …

Über was beschwere ich mich also?

Also alles gut. Worüber hätte ich hier mit irgendwem reden sollen? Es war halt wie es war. Klar haben ein paar Sachen genervt … die Mutter die IMMER und ich meine IMMER da war … der Vater bei dem man nie wusste woran man war … rigide Regeln, die teilweise völlig abstrus und willkürlich waren … aber deswegen zu einem Therapeuten gehen? Lächerlich!

Und dann viele Jahre später habe ich Larry Heller, den Begründer von NARM, dem Neuroaffektiven Relationalen Modell, kennengelernt. Er war anfangs mein Lehrer in der Somatic Experiencing-Ausbildung bevor er sich ganz dem von ihm entwickelten NARM-Modell gewidmet hat. In den Anfängen von NARM sprach er noch von 5 Charakterstrukturen, heute nennt er sie die 5 Überlebensstile.

Dieses entwicklungspsychologisch basierte Modell sollte mich von da an nicht mehr loslassen und ist heute das Fundament meiner Arbeit. Neun Jahre durfte ich als Mitglied seines Assistenz- und Lehrteams in Europa Therapeuten aus- und weiterbilden. Heute habe ich für meine Trauma-Schule die zentralen Aspekte von NARM auch für Laien leicht verständlich übersetzt und für den Alltag anwendbar angepasst.

Das sind keine Luxusprobleme, sondern Verzerrungen des Ichs aufgrund von Trauma

Damals habe ich erkannt: das, was mich in meinem Kopf so umtrieb, waren keine Luxusprobleme. Mein innerer Stress … meine Selbstzweifel, die mich im Umgang mit Fremden so blockierten, dass ich immer am Rand blieb und hoffte, ja nicht angesprochen zu werden … meine vielen Krankheiten, die von der Ärzteschaft immer als komisch bezeichnet wurden … all das waren die Folgen von komplexem Trauma, dass ich in meiner frühen Kindheit erlebt habe.

Wie das, wirst du dich jetzt vielleicht fragen. Denn schließlich habe ich ja eben selbst gesagt, dass ich eine normale Kindheit hatte … weder besonders glücklich noch besonders schwierig. Wie also kann jemand wie ich von sich selbst behaupten, komplex traumatisiert zu sein?!?!?

Jenseits der Empörung, in die viele gerne anfangs verfallen, wenn sie mit mir hierüber ins Gespräch kommen, gibt es eine Welt, derer wir alle uns noch viel zu wenig bewusst sind:

Die Seelenwelt eines Kindes

Und in dieser Seelenwelt sind nicht nur z. B. körperlich Misshandlungen schlimm und prägend. Diese Seelenwelt ist so viel feiner und verletzlicher als wir meinen.  

Viele empören sich darüber, wie ich den Traumabegriff verwende. Für sie ist Trauma = Schocktrauma. Dinge wie Naturkatstrophen, schwere Unfälle, Krieg und Vergewaltigungen sind ein Trauma und nur wer das erlebt hat, darf sich als traumatisiert bezeichnet. Wie kann ich mit meiner wohl behüteten Kindheit es wagen, mich mit Menschen die derartiges erlebt haben, auf eine Stufe zu stellen?

Falsche Empörung

Ich kann diese Empörung verstehen. Schließlich war ich bis vor ca. 20 Jahren auch noch so drauf. Ich hatte zwar keinerlei Idee, warum ich mich so verfuselt innerlich anfühlte. Aber dass ich unter den Folgen von komplexem Trauma leiden sollte, hätte ich mit Händen und Füßen von mir gewiesen. Und jeden, der was anderes behauptet, für gelinde gesagt bescheuert erklärt.

Heute weiß ich, dass auch bei mir meine Zeit in Mamas Bauch, meine Geburt und die ersten Monate ein zentraler Dreh- und Angelpunkt und weichenstellend für mein weiteres Leben waren. Und teilweise auch heute noch sind.

Als Larry Heller vor nunmehr mehr als 15 Jahren in einem 4 Tages-Workshop über diese erste Phase unseres Menschwerdens sprach, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Eine völlig neue Welt mit bisher ungeahnten Möglichkeiten tat sich für mich auf.

Ich erspare dir hier die Details. Nur so viel: es war für mich in der Zeit mehr als einmal brenzlig, ob ich überlebe. Obwohl ich ein Wunschkind war, war es schon sowohl im Bauch, als auch dann draußen ein paar Mal echt knapp.

Hier zu verstehen, welchen prägenden Einfluss das auf ein so unreifes System hat … auf welche wackelige Grundlage alles folgende aufgebaut wird … und wie und warum diese wackelige Grundlage auch im Erwachsenenalter noch wirkt … war für mich Lebensverändernd. Und all das war und ist vor allem eines: faszinierend.

Denn nimmt man die Empörungs- und Furchtbar-Brille zumindest einmal kurz von der Nase entdeckt man etwas zutiefst Berührendes: Die Weisheit, die in all dem steckt.

Gabor Maté, ein bekannter und wichtiger Traumatherapeut den ich dir, solltest du ihn noch nicht kennen, sehr ans Herz legen möchte, nennt es:

„The Wisdom of Trauma“

Mir gefällt diese englische Bezeichnung soviel besser, als alles was hier die deutsche Sprache an Übersetzungsmöglichkeiten zu bieten hat.

Und Gabor spricht auch von „The Myth of normal“, also der Mythos des Normalen. Was gleich noch so eine englische Formulierung ist, die man nur schwer ins Deutsche übersetzen kann. Und die es so viel klarer auf den Punkt bringt.

„The Myth of normal“

Denn das, was wir so gerne als Luxusprobleme abtun, ist in Wirklichkeit dieser Mythos. Der Mythos des Normalen. Das, was wir für Normal halten, ist alles andere als normal. Es ist vielmehr die Folgen von im Kern unerlöstem transgenerationalen Trauma, das von Generation zu Generation weitergeben und mit jeder Generation zu mehr und mehr Verzerrungen und Störungen geführt hat. Vieles von dem was wir heute in der Welt sehen, ist die Folge von kollektiver Dissoziation als Folge von ungelöstem Trauma. Denn im Kern sind z. B. Dissoziation, Depression, Verdrängung, Hass und Hetze Bewältigungsmechanismen eines zutiefst überforderten Systems.  

„The Body keeps the score“

Hier mag ich kurz aus Bessel van de Kolks Buch „Verkörperter Schrecken“ zitieren. … Übrigens heißt das Buch im englischen „The Body keeps the score“ und es ist mir ein Rätsel wie man auf diesen deutschen Titel gekommen ist.

Hier was er gleich im Prolog schreibt:

„Menschen sind eine erstaunlich widerstandfähige Spezies. Seit unvordenklicher Zeit haben wir uns von unablässigen Kriegen, zahllosen (sowohl von der Natur als auch von Menschenhand verursachten) Katastrophen sowie von Gewalt und Verrat immer wieder erholt. Doch traumatische Erlebnisse hinterlassen Spuren, unabhängig davon, ob sie in größeren Zusammenhängen (wie in unserer Geschichte und in ganzen Kulturen) oder in unserem unmittelbaren Umfeld und in unseren Familien stattfinden, indem dunkle Geheimnisse unmerklich von einer Generation auf die nächste übertragen werden. Auch in unserem Geist und in unseren Emotionen hinterlassen diese Dinge Spuren, und sie können unsere Fähigkeit, Freude und Intimität zu erleben, und sogar unsere biologischen Grundlagen einschließlich unseres Immunsystems beeinflussen.“

Weiter schreibt er:

„Traumata wirken sich nicht nur auf diejenigen aus, die solche Ereignisse direkt erleben, sondern auch auf Menschen, die den Traumatisierten nahestehen. Soldaten, die aus dem Kampf zurück nach Hause kommen, können durch ihre Wutanfälle und ihre emotionale Unnahbarkeit ihre Familie ängstigen. Frauen, deren Männer unter PTBS leiden, werden häufig depressiv, und die Kinder depressiver Mütter entwickeln sich oft zu unsicheren und ängstlichen Erwachsenen. War ein Kind in seiner Familie häufig Gewalttätigkeiten ausgesetzt, fällt es ihm als Erwachsenem vielfach schwer, stabile und vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.“

Hör(t) auf nach Schuldigen zu suchen

Daran hat niemand so wirklich Schuld. Und daher macht es auch herzlich wenig Sinn nach einem Schuldigen zu suchen.

Die Generationen vor uns, die Trauma in seiner offensichtlichsten Form von Krieg, Vertreibung, Terror und Horror erlebt haben, mussten dissoziieren … verdrängen … abspalten … um das Unerträgliche zu ertragen. Sie mussten innerlich hart werden um zu überleben. Ohne diese zutiefst menschliche Fähigkeit unserer Vorfahren würde es dich und mich heute nicht geben. Aber es gibt uns. Und das ist gut so. Nur wegen unseren Ahnen kann  ich jetzt diesen Podcast sprechen und du ihn gerade hören.

Meine Jahre als Traumatherapeutin haben mir bewusst gemacht:

Wir SIND die, auf die wir gewartet haben.

Wir sind die, deren Aufgabe es ist, das Trauma unserer Vorfahren zu heilen. Denn wir sind die, die heute Zugang zu einem Wissen haben, das unsere Vorfahren nicht hatten. Und so ist es unsere Aufgabe dieses Wissen zu schöpfen und zum Wohle alles anzuwenden.

Ja, unsere Vorfahren haben uns hier ein schwieriges Erbe hinterlassen. Und es wird sicherlich noch eine Weile dauern, bis wir das gemeinsam transformiert haben.

Ein erster Schritt ist es, dass was uns den Schlaf raubt nicht länger als Luxusprobleme und Normal abzutun. Sondern hinzuschauen. Denn das ist der Mythos des Normalen: das was wir als Normal wahrnehmen ist vor allem eines: zutiefst unnatürlich.

Trauma gehört zum Leben dazu. Traumabewältigung auch. Für beides hat uns das Leben das nötige Rüstzeug in die Serienausstattung gepackt. Wir müssen nur endlich anfangen es zu nutzen.

Um zum Schluss dieses Podcasts nochmal kurz den Bogen zum Anfang zu spannen: seitdem ich meine Kindheit in einem anderen Licht sehen kann … seitdem ich einen Zugang zu diesen tiefen Schichten in mir habe und hier viel heilen konnte, ist mein Leben so viel facettenreicher und freier geworden. Und das erlebe ich auch bei meinen Klienten.

Neuroaffektive Traumaarbeit ermöglicht tiefe Heilung …

…und ist in meinen Augen der Quell wahrer Potentialentfaltung. Denn zu verstehen, was aus unserer Vergangenheit nur scheinbar normal, in Wahrheit hingegen zutiefst unnatürlich war, erlöst uns aus alten dysfunktionalen Mustern.

Daher lade ich dich ein: lausche Gabor Maté … Larry Heller … Peter Levine … Bessel van de Kolk … Verena König … Gerald Hüther … oder wer auch immer dir bei deinen Recherchen zum Thema Trauma begegnet. Erlaub dir in The Wisdom of Trauma einzutauchen und The Myth of Normal für dich mehr und mehr zu enttarnen.

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