Ist Hochsensibilität eine Traumafolge? Eine erste Annäherung

Vielleicht hast du dich selbst schon einmal gefragt, warum du so intensiv auf Reize reagierst, warum dich laute Umgebungen oder Konflikte schneller erschöpfen als andere – oder warum du oft das Gefühl hast, „anders“ oder fehl am Platz zu sein.

Gibst du das in Google ein, dauert es nicht lange und du wirst dich fragen: „Bin ich vielleicht hochsensibel?“ Wenn du dann weiterforschst, wird es wieder nicht lange dauern bis aus der Frage Gewissheit wird. Ich mag deinen Recherchen noch ein weiteres Puzzlestück hinzufügen. Und zwar das Puzzlestück des Traumas. Denn wir du gleich hören wirst, gibt es hier erstaunlich viele Überschneidungen. Was mich persönlich in meiner Meinung bestärkt hat: Hochsensibilität ist eine Traumafolge. Warum ich das meine, darum geht es in diesem Podcast.

Wenn dich das Thema Hochsensibilität selbst betrifft, dann bleib jetzt dran und lass dich überraschen, welche Puzzleteile du hier so alles finden wirst.

Eine kleine Gegenüberstellung von zwei Modellen

Ich starte gleich mal mit einer kleinen Gegenüberstellung von zwei Modellen. Zum einen einer allgemeinen Erklärung, was Hochsensibilität ist. Und dem stelle ich die Beschreibung  von GHIA („Global High Intense Activation“) aus dem Somatic Experiencing gegenüber. Alleine diese beiden Puzzleteile lassen bereits ein erstaunliches neues Bild entstehen.

  1. Hochsensibilität

Hochsensibilität (auch Hochsensitivität) beschreibt ein Persönlichkeitsmerkmal, bei dem Menschen Informationen und Reize aus ihrer Umwelt intensiver und detaillierter wahrnehmen und verarbeiten. Der Begriff wurde erstmals von der US-amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron in den 1990er Jahren populär gemacht.

Hochsensibilität ist – genau wie Trauma – keine Krankheit, sondern ein psychologisches Phänomen, das sich durch folgende Merkmale auszeichnet:

  • Betroffene Menschen nehmen Sinnesreize wie Geräusche, Licht, Gerüche oder auch emotionale Stimmungen stärker wahr als andere.
  • Reize und Informationen werden tiefgehender verarbeitet, was oft zu längeren Reflexions- und Erholungsphasen führt.
  • Hochsensible Menschen fühlen Emotionen (eigene und fremde) sehr intensiv und reagieren empfindlicher auf zwischenmenschliche Konflikte.
  • Durch die erhöhte Aufnahme von Reizen können Hochsensible schneller überfordert oder gestresst sein.
  • Viele hochsensible Menschen haben ein ausgeprägtes Gespür für subtile Veränderungen oder Stimmungen in ihrer Umgebung.
  • Sie empfinden oft eine tiefe Empathie für andere und sind sehr aufmerksam gegenüber den Gefühlen und Bedürfnissen ihrer Mitmenschen.

Laut Studien könnte Hochsensibilität auf eine besondere Funktionsweise des Nervensystems zurückzuführen sein. Hochsensible Menschen haben eine höhere Aktivität in den Bereichen des Gehirns, die für Wahrnehmung und Verarbeitung von Sinneseindrücken zuständig sind.

Dadurch haben sie oft besondere Stärken, wie z. B. Kreativität, Empathie und ein tiefes Verständnis für komplexe Zusammenhänge. Allerdings kann ihre ausgeprägte Sensibilität in stressreichen oder reizintensiven Umgebungen pure Überforderung sein, was dann zu tiefer Erschöpfung oder dem Bedürfnis nach Rückzug führt.

2. GHIA

Und nun zur GHIA-Definition aus dem Somatic Experiencing.

Der Begriff GHIA steht für „Global High Intense Activation“ und beschreibt einen Zustand, in dem das autonome Nervensystem aufgrund einer extremen Stress- oder Traumaerfahrung eine sehr hohe Aktivierung erfährt. Dies ist typischerweise eine Überlebensreaktion des Körpers (z. B. Kampf, Flucht oder Erstarrung).

Das Besondere an GHIA ist, dass diese Aktivierung nicht auf einen bestimmten Bereich oder Aspekt des Körpers oder Erlebens begrenzt ist. Stattdessen ist sie global, also umfassend, und betrifft sowohl:

  • Körperliche Ebene: Herzrasen, Muskelverspannungen, Schwitzen, erhöhter Blutdruck, Hyperventilation, Zittern.
  • Emotionale Ebene: Gefühle wie Angst, Panik, Hilflosigkeit, Überwältigung oder sogar Gefühlslosigkeit (Dissoziation).
  • Kognitive Ebene: Schwierigkeit, klar zu denken, Chaos im Geist, Gedächtnislücken, Tunnelblick oder Katastrophen-Gedanken.

GHIA kann als eine Art “Feststecken” im Zustand eines hyperaktiven (Sympathikus) oder hypoaktiven (Parasympathikus – bei Erstarrung) Nervensystems beschrieben werden. Es entsteht oft bei einer traumatischen Erfahrung, die der Körper nicht vollständig verarbeiten konnte.

Menschen, die unter GHIA leiden, können die folgenden Symptome erleben:

  • Chronische Anspannung: Sie fühlen sich ständig “unter Strom”.
  • Übererregung (Hyperarousal): Gesteigerte Reizbarkeit, Schlafprobleme, Nervosität.
  • Untererregung (Hypoarousal): Erschöpfung, Taubheit, Dissoziation.
  • Flashbacks oder wiederkehrende Erinnerungen an das Trauma.
  • Schwierigkeit, Emotionen oder Körperempfindungen zu regulieren.

GHIA kann auch durch kleinere Trigger ausgelöst werden, die unbewusst an die ursprüngliche traumatische Situation erinnern.

Nun, was denkst du gerade? Klingt doch erstaunlich ähnlich, oder?

Ich selbst habe viele Jahre gedacht, ich sei hochsensibel und habe nach Wegen und Techniken gesucht damit irgendwie besser klarzukommen. Was mir ehrlich gesagt mehr schlecht als recht gelungen ist. Die Zustände permanenter Überforderung und Überwältigung blieben, meine körperlichen Symptome wurden schlimmer und meine Verzweiflung wuchs. Bis ich anfing mich mit dem Thema Trauma zu beschäftigen. Da wurde mir klar:

Trauma und Hochsensibilität hängen zusammen.

Ich gehe sogar so weit zu sagen: Hochsensibilität ist eine Traumafolge und geht meistens auf frühes Schock-, Bindungs- und/oder Entwicklungstrauma zurück. Und mit früh meine ich Erlebnisse während der Schwangerschaft, unter der Geburt und innerhalb der ersten sechs Lebensmonate.

Und hier ein kleiner Tipp: Sollte dich das lesen aufwühlen, ist das ein zwar unangenehmes, aber dennoch gutes Zeichen, dass du auf der richtigen Fährte bist. Als hochsensibler Mensch hast du gelernt … hast lernen müssen … die Zähne zusammenzubeißen und weiterzumachen. Und daher lade ich jetzt ein: wie wäre es gleich hier und jetzt etwas Neues auszuprobieren und gleich mal kurz auf die Pausetaste zu drücken? Der Beitrag läuft dir ja nicht weg. Gönn deinem Nervensystem diese kleine Verschnaufpause … trink einen Schluck … schau dich im Raum um … geh mit deiner Aufmerksamkeit – die ja eh dauernd hin und her springt – gerade einmal bewusst woanders hin … vielleicht ist da auch der Impuls, dich ein bisschen zu schütteln oder zu strecken. Gib all dem ausgiebig und genüsslich nach. Und erst danach liest du weiter.

Und? Hast du deinem Nervensystem die kleine Pause gegönnt oder war die Neugier stärker?

Nur so am Rande

Zwischendurch innerlich mal die Pausetaste drücken, wirkt wahre Wunder. Mal ganz bewusst … für einen Moment … das System runterfahren, ist möglich. Auch einem hochsensiblen Menschen. Ja, nicht so leicht wie bei nicht-hochsensiblen Menschen, aber auch uns ist es vergönnt, Ruhe in uns zu finden. Hierzu gebe ich in meinen Podcasts immer wieder alltagstaugliche Praxistipps, die wirklich funktionieren. Denn sie alle haben einen Neurobiologischen Background und gehen weit über reine Verhaltenstipps hinaus. Also abonniere am besten gleich meinen Kanal damit du hier nichts mehr verpasst.

Und nun zurück zum Zusammenhang von Trauma und Hochsensibilität.

Nur 15-20%?

Hochsensibilität ist ein Begriff, der in den letzten Jahren immer bekannter wurde und Studien zufolge sind etwa 15–20 % der Menschen hochsensibel. Meine persönliche Einschätzung ist: diese Zahl ist deutlich höher und steigt – u.a. ausgelöst durch die Mikrobenkrise – in allen Altersschichten stark an. Was man daran erkennen kann, dass sich seit einiger Zeit die Diagnose ADHS auch bei Erwachsenen einer zunehmenden Beliebtheit erfreut. Du merkst an meiner Wortwahl bereits, dass ich hier anderer Meinung bin … um es sehr vorsichtig auszudrücken. Aber dazu mehr in anderen Podcasts, denn in meinen Augen wird hier die komplett falsche Sau durchs Dorf getrieben und es ist wichtig, tiefer zu schauen bevor man ein Rezept in die Apotheke trägt. Bevor ich mich jetzt doch anfange aufzuregen, bleibe ich lieber beim heutigen Thema.

Gemeinsamkeiten

Hochsensible Menschen und Menschen, die unter Traumafolgen leiden haben eines durchweg gemeinsam: sie nehmen ihre Umwelt intensiver wahr: Geräusche, Gerüche, Stimmungen oder kleinste Veränderungen in der Umgebung – all das wird von ihrem Nervensystem stärker verarbeitet und sie fühlen sich selbst von alltäglichen Situationen, wie im Supermarkt einkaufen gehen, schnell überfordert.

Dr. Gabor Maté, einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Trauma-Forschung, betont, dass gerade frühkindliche Erfahrungen unser Nervensystem nachhaltig prägen. Wer in einer Umgebung aufwächst, in der Liebe, Unterstützung, Sicherheit oder Stabilität fehlen, entwickelt eine grundsätzlich erhöhte Wachsamkeit. Das Nervensystem lernt, auf kleinste Zeichen von Gefahr zu reagieren – eine Überlebensstrategie, die später als Hochsensibilität wahrgenommen werden kann.

Ein Beispiel: Paul, 40, wuchs bei Eltern auf, die häufig stritten. Er entwickelte eine extreme Feinfühligkeit für die Stimmungen anderer, um Konflikte frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Diese Fähigkeit war in seiner Kindheit überlebenswichtig, doch als Erwachsener fühlt er sich von den Emotionen anderer oft überwältigt. Sozialer Rückzug ist manchmal seine einzige Chance, dieser Überforderung zu entgehen. Nur dann leidet er unter der Einsamkeit.

Um das besser zu verstehen, müssen wir uns ansehen, wie Trauma unser Nervensystem beeinflusst.

Trauma und der Einfluss aufs Nervensystem

Unser Nervensystem ist ein Meisterwerk der Evolution. Es schützt uns vor Gefahren, indem es auf Bedrohungen reagiert – durch Aktivierung des Sympathikus („Kampf oder Flucht“) – dem Gaspedal unseres Nervensystems – oder durch Entspannung über das Bremspedal, den Parasympathikus („Ruhe und Regeneration“).

Trauma bringt dieses System aus dem Gleichgewicht.

Ein traumatisches Ereignis wird – was viele nicht wissen – nicht nur im Gedächtnis als Ereignis gespeichert, sondern vor allem im Körper. Hier gilt der Satz von Peter Levine, dem Begründer von Somatic Experiencing: „Trauma ist nicht im Ereignis, Trauma ist im Körper.“

Daher bleibt das Nervensystem in Alarmbereitschaft, selbst wenn die Gefahr längst vorbei ist. Und das über Jahre hinaus. Dies erklärt, warum Menschen noch jahrelang unter Traumafolgen wie Schlafstörungen, Reizbarkeit, Magenproblemen oder ständiger Anspannung kämpfen. Um nur einige zu nennen.

Wenn du mehr zu diesen Zusammenhängen wissen möchtest, empfehle ich dir meinen Podcast Nr. 9: Trauma-Basics: Der Ablauf einer Bedrohungsreaktion.

Ein Trauma entsteht immer dann, …

…wenn Grenzen überschritten werden und die drei Traumakriterien erfüllt sind von zu schnell, zu viel in zu wenig Zeit. Also was passiert, passiert unerwartet (= zu schnell), es passiert zu viel und das dann auch noch alles gleichzeitig. Grad sitzen wir noch auf unserem Fahrrad und schon liegen wir im Graben.

So eine Grenzverletzung kann eine körperliche Verletzung sein, aber sie kann auch ein emotionaler Angriff oder auch die subtile Erfahrung, nicht gehört oder respektiert zu werden sein.

Ein Beispiel: Sarah, 32, wurde in ihrer Kindheit von ihren ehrgeizigen Eltern ständig kritisiert. Sie lernte früh, ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen und nicht aufzubegehren, um Kritik zu vermeiden. Heute reagiert sie extrem sensibel auf jede Form von Feedback – selbst gut gemeinte Hinweise empfindet sie gleich als persönlichen Angriff.

Hochsensible Menschen haben, genau wie traumatisierte Menschen, besonders feine „Sensoren“ für Grenzüberschreitungen – bei sich selbst und bei anderen. Diese Sensibilität ist ein Schutzmechanismus, der sie davor bewahren soll, erneut verletzt zu werden. Doch sie führt auch dazu, dass sie häufiger und schneller überfordert und teilweise extrem dünnhäutig sind. Was nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihre Umgebung recht anstrengend ist.

Fluch und Segen der stolzbasierten Identifizierung

Viele Hochsensible haben, seit sie sich als hochsensibel erkannt haben, hier eine zusätzliche Strategie entwickelt: sie verstecken sich hinter dem Label der Hochsensibilität.

Sie machen Hochsensibilität dann zu ihrer Identität und sagen mit Stolz: „Ich bin hochsensibel!“ Doch dies ist wenn man etwas genauer hinschaut keine wahre Identität, sondern eine stolzbasierte Identifizierung. Und diese sogenannte stolzbasierte Identifizierung dient dem Zweck, das tiefe Leid, dass es nun einmal mit sich bringt, wenn einen alles ständig überfordert, vor der Welt zu verbergen und zu schützen.

Ein Beispiel: David, 38, beschreibt sich selbst als hochsensibel und ist stolz darauf, Dinge wahrzunehmen, die anderen entgehen. Doch in einer Therapie erkennt er, dass er seine Hochsensibilität oft nutzt, um sich vor emotionaler Nähe zu schützen. Seine Sensibilität ist ein Schutzmechanismus, der ihn vor erneuten Verletzungen bewahren soll.

So hilfreich und logisch die stolzbasierte Identifizierung ist, sie hat einen Haken: Solange wir uns hinter der Maske der Hochsensibilität verstecken und stolz auf unsere feinfühlige Durchlässigkeit sind, können wir die wahren Ursachen unserer Verletzlichkeit nicht heilen.

Ein Lösungsansatz: Neuroaffektive Traumatherapie

Ein Weg aus diesem Kreislauf ist die neuroaffektive Traumatherapie. Diese Methode setzt direkt am Nervensystem an und hilft, die Spuren von Trauma zu lösen.

Denn die neuroaffektive Traumatherapie – und hier besonders NARM – kombiniert:

  • Körperarbeit, um das Nervensystem zu beruhigen.
  • Achtsamkeit, um sich sicherer im eigenen Körper zu fühlen.
  • Und da sie ein bindungs- und entwicklungspsychologisch orientierter Ansatz ist, ermöglicht sie auch emotionale Integration, um alte Wunden heilen zu lassen.

Ein Beispiel: Claudia, 45, hatte jahrelang das Gefühl, ständig „unter Strom“ zu stehen. In der Traumatherapie lernte sie, wie sie ihr Nervensystem mit alltagstauglichen Körperübungen regulieren kann. Nach einigen Monaten bemerkte sie, dass sie entspannter auf Stress reagiert – und ihre Hochsensibilität nicht mehr als Schwäche, sondern als Stärke erlebt.

Hochsensibilität als Gabe

Wenn die Wunden des Traumas heilen, verändert sich auch der Blick auf die Hochsensibilität. Sie wird nicht mehr als Belastung, sondern vielmehr als echte Gabe empfunden. Und das dann nicht aus einem falschen Stolz, sondern aus friedlich verkörpertem, echtem Stolz heraus.

Dann haben hochsensible Menschen die Fähigkeit, tiefere Verbindungen zu anderen aufzubauen, Emotionen besser zu verstehen und kreative Lösungen zu finden ohne davon überwältigt zu werden.

Ein Beispiel: Laura, eine Künstlerin, nutzt ihre Sensibilität, um emotionale Geschichten in ihren Bildern zu erzählen. Früher fühlte sie sich von ihrer Empfindsamkeit überwältigt, doch heute sieht sie sie als Quelle ihrer Inspiration.

Trauma und Hochsensibilität sind keine einfachen Themen – doch sie bieten unglaubliches Potenzial zur Heilung und Transformation.

Wenn du dich in diesen Geschichten wiederfindest, erinnere dich daran: Du bist nicht allein, und es gibt Wege, diese Herausforderungen zu bewältigen. Teile diesen Blogbeitrag oder den Podcast gerne mit anderen und schreib in den Kommentaren, wie es dir beim Zuhören erging.

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