Helfen bis zur Erschöpfung

Menschen, die mit Menschen arbeiten – und hier ist es egal ob es kleine oder große, junge oder alte Menschen sind – tun dies aus den unterschiedlichsten Motivationen. Und doch haben wir alle … und ich zähle mich hier mit dazu … etwas gemeinsam: Wir tragen die Fähigkeit zu dienen in uns. Wir können das Wohl anderer über unser eigenes Wohl stellen. Und diese Fähigkeit ist Fluch und Segen in einem.

Fluch, weil es hier in der Natur der Sache liegt, dass man sich selbst dabei gerne mal hinten anstellt oder sogar komplett vergisst.

Segen, weil es einfach Momente im Leben gibt, wo es notwendig – also Not abwendend – ist, dass jemand genau diese Fähigkeit hat.

Nur neigt diese Fähigkeit leider dazu, Schlagseite in Richtung Fluch zu bekommen und die Burnoutrate in helfenden Berufen ist daher hoch. Nur müsste das so nicht sein. Je bewusster wir Menschen, die von Herzen gerne mit Menschen arbeiten, sich ihrer selbst sind, um so leichter wird es, eine stimmige Balance zwischen Dienen und Selbstfürsorge zu finden.

In meiner Trauma-Schule geht es darum, diese Balance mehr und mehr zu finden und den alten unbewussten Mustern die Kraft zu nehmen. Daher ist Selbsterforschung ein fester Bestandteil der Weiterbildung zum Traumainformierten Coach.

Solltest du die Trauma-Schule noch nicht kennen und nun ein bisschen neugierig geworden sein, kannst du dich ja ein bisschen auf meiner Homepage umschauen. Hier findest du jede Menge Lesestoff.

Was genau hat Bewusstheit mit der Fähigkeit eine stimmige Balance zwischen Dienen und Selbstfürsorge zu finden zu tun?

Jede Menge ist die Kurzversion und um die Langversion geht es in diesem Beitrag.

Hierzu mache ich einen kurzen Abstecher in den 2. Überlebensstil aus dem NARM-Modell, dem Neuroaffektiven Beziehungsmodell von Dr. Laurence Heller. Da ich 9 Jahre lang im Lehrteam mit Larry kreuz und quer durch Europa unterwegs war, ist es nicht weiter verwunderlich, dass NARM heute eine der tragenden Säulen meiner Arbeit und der Trauma-Schule ist. Denn NARM ist für mich nicht nur eine Methode, um Bindungs- und Entwicklungstrauma lösen zu können.

NARM ist für mich eine Haltung zum Leben an sich. Und das wird deutlich, wenn man über die Theorie des Modells hinausschaut und in die Tiefe geht.

Für alle, die NARM noch nicht kennen, ein kleiner Hinweis: NARM steht für Neuroaffektives Beziehungsmodell und ist in meinen Augen die zurzeit kostbarste Therapieform für Bindungs- und Entwicklungstrauma. Wenn du hier mehr wissen magst: Auf meiner Homepage habe ich eine eigene Infoseite angelegt. Die findest du im Hauptmenu unter dem Menupunkt Trauma-Schule.

5 Charakterstrukturen

Im NARM-Modell gibt es fünf entwicklungspsychologisch basierte Überlebensstile. Früher nannte Larry sie die fünf Charakterstrukturen. Ich persönlich mag diesen Begriff lieber, denn für mich spiegelt der Begriff „Charakterstruktur“ die Alltäglichkeit der Auswirkungen von in der Kindheit erlebten Bindungsstörungen besser wieder als der Begriff „Überlebensstile“, der heute in NARM benutzt wird.

Und daher verwende ich den Begriff der Charakterstrukturen in meiner Arbeit.

Bedürfnisse und Einstimmung

In der 2. Charakterstruktur geht um das Thema Bedürfnisse und hier um die Einstimmung unserer Umgebung, im Schwerpunkt der primären Bezugspersonen, auf den Ausdruck unserer Bedürfnisse.

Wenn ein Säugling seiner Umgebung mitteilt, dass es ihm oder ihr gerade nicht gut geht, vielleicht weil der Bauch leer und die Hose voll ist, ist der Säugling abhängig von der Reaktion der Umgebung. Er kann sich nicht selber helfen.

Reagiert die Umgebung liebevoll und zeitnah, lernt der Säugling: ich habe ein Bedürfnis, ich teile das meiner Umgebung mit, mir wird geholfen … alles wieder gut.

Reagiert die Umgebung hingegen gereizt, hektisch, gestresst, laut oder vielleicht sogar garnicht, lernt der Säugling: das Benennen meines Bedürfnisses macht alles nur noch schlimmer. Und daraus schließ das kleine Wesen: mit meinem Bedürfnis stimmt irgendetwas nicht. Denn sonst würde sich ja jemand um mich kümmern.

Und da so ein Miniwesen all das ja nicht denken kann – der Neokortex, also der spätere Sitz der Ratio ist noch nicht mit in die Informationsverarbeitung involviert – kann es all das nur fühlen. Und das, was es da fühlt, fühlt sich nicht gut an.

Eine Schwalbe macht auch hier noch keinen Frühling und daher ist es, wenn das ab und zu passiert, zwar irritierend, aber noch nicht verstörend für das noch unreife Nervensystem des Säuglings.

Ist eine genervte, hektischer gereizte Reaktion aber normal, sieht die Welt anders aus. Dann verfestigt sich der Glaube, dass mit den eigenen Bedürfnissen etwas nicht stimmt. Was ja auch zutiefst logisch ist. Wenn es nach dem Ausdruck der eigenen Bedürfnisse scheinbar für alle schlimmer wird, wird man hier vorsichtig. Und mit der Zeit still und stiller.

Dann ist der Bauch zwar unangenehm leer und die Hose nicht minder unangenehm voll, aber wie schnell und wie laut dem dann Ausdruck gegeben wird, verändert sich.

Was das kleine Wesen, da noch komplett unbemerkt, auch lernt, ist: wenn ich meine Bedürfnisse hintenanstelle, geht es meiner Umgebung besser.

Lass den Satz bitte auf dich wirken:

Wenn ich meine Bedürfnisse hintenanstelle, geht es meiner Umgebung besser.

Nimm dir gerade einen Moment und ein paar bewusste Atemzüge Zeit und spür dem Satz in dir nach.

Resoniert da etwas in dir mit diesem Satz? Trägt er einen Funken Wahrheit in sich? Oder vielleicht ja sogar mehr als nur einen Funken?

Ich mache hier bewusst die kleine Verschnaufpause, denn der Satz geht noch weiter.

Wenn ich meine Bedürfnisse hintenanstelle, geht es meiner Umgebung besser. Und wenn es meiner Umgebung besser, dann wird es mir sicherlich auch irgendwann besser gehen.

Lass auch das, verbunden mit ein paar bewussten Atemzügen, auf dich wirken.

Entdecke die Weisheit darin

Und nimm dir Zeit, die Weisheit darin zu entdecken. Geh bewusst weg von der Traurigkeit und Schwere und vielleicht auch der aufkeimenden Empörung und schau auf die Weisheit, die in dieser Logik steckt.

Leg den Fokus auf die Intelligenz des Säuglings und lass diesen Aspekt auf dich wirken.

Ja, das mag jetzt ungewöhnlich erscheinen und dich vielleicht auch ein wenig irritieren, sind wir es doch so gewohnt aufbrausend auf das Versagen zu schauen.

Tut man das aber nur für einen Moment nicht, kann man etwas sehr berührendes entdecken:

Ein so kleines Wesen, dem logisches Denken noch nicht zur Verfügung steht, kann instinktiv diesen Zusammenhang herstellen. Ist es nicht erstaunlich, was Mutter Natur uns damit in die Wiege gelegt hat? Wie clever … wie smart … von einem so kleinen Menschen, zu so einem Anpassungsprozess in der Lage zu sein.

Später im Leben

Was hat nun all das mit damit zu tun, dass man dann später im Leben dazu neigt zu helfen bis weit über die eigenen Kräfte hinaus?

Vielleicht ahnst du hier schon einen Zusammenhang und kannst ihn aber noch nicht so recht greifen. Vielleicht keimt auch gerade schon ein wenig Ärger in dir auf und du nimmst einen gewissen Widerstand in dir wahr.

Sollte das so sein, versichere ich dir an dieser Stelle: ich erhebe nicht den Anspruch die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Ich biete dir hier einen Blickwinkel auf eine durchweg komplexe Dynamik an. Wie viel oder wie wenig du davon nehmen magst, entscheidest allein du. Und diesen Blickwinkel formuliere ich klar und ohne Schnörkel. Denn nur dann kann man sich daran reiben. Nur dann kann man überprüfen, ob und wenn wie viel Wahrheit für einen selbst darin steckt.

Klar und ohne Schnörkel bedeutet das:

Menschen, die in ihrer frühen Kindheit erlebt haben, dass ihren Bedürfnissen nicht angemessen begegnet wurde, haben daraus die stolzbasierte Identifizierung entwickelt:

„Ich habe keine Bedürfnisse, ich kümmere mich um die Bedürfnisse anderer.“

Und basierend darauf wählen vielen von ihnen dann später im Leben einen helfenden Beruf. Denn da findet diese alte Indentifizierung viele Abnehmer und kann weitergehen.

Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Bevor ich mich hier selbst auf die Schliche gekommen bin, saß ich tief in dieser Falle. Und war dauer-wütend, weil dauer-unzufrieden. Denn irgendetwas an der Helferei fühlte sich falsch an. Irgendwie grummelt da der „Und ich?“-Satz in mir rum. Nur war mir all das damals nicht bewusst und erst als ich NARM kennenlernte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Und so vieles fing an Sinn zu machen.

Als ich dank NARM verstehen konnte, wie wir uns als Kinder auf das Versagen unserer Umgebung versuchen einen Reim zu machen, konnte ich auch anfangen, mich zu verstehen.

Das Versagen der Umgebung

Denn ein Kind sucht die Schuld am Versagen der Umgebung immer bei sich. Anders kann ein Kind sich die Welt und was gerade passiert nicht erklären.

„Ich bin schuld, denn irgendetwas stimmt mit mir nicht. Wäre ich besser … lieber … leiser … schneller … gewitzter … hübscher … dünner … wäre meine Umgebung anders.“

Ein Kind kann noch nicht erkennen, dass das Defizit auf Seiten der Bezugsperson ist. Ein Kind sucht die Schuld bei sich … schämt sich … beschämt sich selbst ob der eigenen Unzulänglichkeit und passt sich an. Teil dieses Anpassungsprozesses ist die Ausbildung einer eben erwähnten stolzbasierten Gegenidentifizierung.

Aus der schambasierten Identifizierung „Meine Bedürfnisse sind schlecht und/oder falsch = ich bin schlecht und/oder falsch.“ wird dann die stolzbasierte Gegenidentifizierung „Ich habe keine Bedürfnisse.“ oder „ICH habe meine Bedürfnisse im Griff. Ich brauche nichts. Ich gebe.“

Sind wir uns dessen nicht bewusst, sind wir wahre Meister darin, unsere Bedürfnisse hinten anzustellen. Nur tun wir das nicht aus dem Herzen heraus, sondern aus dem Kopf heraus. Wenn wir aus der stolzbasierten Gegenidentifizierung heraus helfen, ist das eher hart … rigide … herrisch. Sowohl gegenüber uns selbst, als gegenüber denen, denen wir helfen. Diese Härte gegenüber uns selbst führt dann dazu, dass wir später im Leben bis zur Erschöpfung helfen. In meinen Augen liegt hier eine der Hauptursachen für die hohe Burnoutrate in helfenden Berufen.

Ja, auch die Zustände hier tragen ihren Teil bei. Keine Frage.

Der “Fehler” liegt nicht alleine im System

Nur passen hier zwei Dinge nun einmal leider extrem gut zusammen: ein System, das lieber nimmt, statt zu geben. Und Menschen, die sich schwer damit tun, ihren Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen und lieber zurückstecken als sich zu wehren.

Würden hier mehr aus den Verzerrungen ihrer alten Charakterstrukturen aussteigen, würden die Verzerrungen des Systems unübersehbar und damit würde der Druck steigen. Aber dafür müssen die Individuen den ersten Schritt gehen. Das System wird es nicht tun. Warum auch?

Nur tun die meisten das nicht. Denn sind die eigenen Bedürfnisse mit Schuld und Scham unbewusst überkoppelt, wird das jedes Mal unangenehm spürbar, wenn sich in uns ein Bedürfnis regt. Und um das ungute Gefühl schnellstens wieder loszuwerden, tun wir das, was wir schon unser ganzes Leben lang getan haben: wir schieben unser Bedürfnis weg, schweigen und beschämen uns dann heute selbst dafür.

Wie auch immer wir das in dem Moment tun:

Wir verlieren den Kontakt zu uns selbst.

Denn wir schneiden uns nicht nur von unserem Bedürfnis ab, wir schneiden uns von uns selbst ab.

Und diese Strategie kann uns dann auch in unserer begleitenden Arbeit mit Menschen in die Quere kommen. Denn wenn wir uns selbst mit einem Thema in uns unwohl fühlen, hat das Einfluss auf unsere Kapazität hier unsere Klienten zu begleiten. Hierzu ein Beispiel:

Ein Klient oder eine Klientin fragt dringend nach einem Termin, aber der Kalender ist voll, übervoll um genau zu sein. Und doch sagt man zu. An dem Tag steht man mit einem mulmigen Gefühl auf, denn man weiß, dass es ein langer Tag werden wird. Und als dann der Notfallklient kommt, ist man müde und gereizt und genervt von sich selbst. Hätte man doch nur nicht zugesagt … wieso lass ich mich hier immer wieder bequatschen … ich könnte jetzt schon Zuhause sein und was essen … Wenn sich dann auch noch herausstellt, dass der Notfall gar kein Notfall ist, ist die Laune endgültig im Keller und der Ärger ist kaum noch aus dem Gespräch rauszuhalten.

Sich hier auf eine persönliche Forschungsreise zu machen und das zugrunde liegende alte Muster gemeinsam mit einem Neuroaffektiven Therapeuten oder Coach zu dekonstruieren, hilft allen. Zunächst einem selbst, denn die alten Bindungsdynamischen Muster zu durchbrechen, bedeutet persönliche Freiheit. Und für die Klienten bedeutet das, auf ein entspanntes Gegenüber zu treffen das wirklich da ist und als Begleiter oder Begleiterin ohne parallel laufende Grummel-Dauertonspur im Kopf zur Verfügung steht.

Ich habe lange gebraucht, bis ich meine heutige Struktur konsequent durchgesetzt habe. Dienstag und Mittwoch sind meine Kliententage. Die anderen Tage gehören der Trauma-Schule, diesem Podcast, meinen Videos und meinen Social Media Aktivitäten. Und mehr als fünf Klienten nehme ich nicht pro Tag. Ganz ab und zu und nur wenn es sich wirklich um einen Notfall handelt auch mal sechs. Aber das passiert vielleicht einmal im Quartal.

Diese Struktur schütze ich. Und damit mich und meine Kräfte. Denn eine Folge meiner komplexen, weil frühen Traumatisierung ist, dass mein Körper nicht sonderlich belastbar ist. Ich habe das lange ignoriert und war hart mir selbst gegenüber. Das ist übrigens auch eine Facette einer stolzbasierten Gegenidentifizierung. Dann wird diese Härte gegen sich selbst zu einer Stärke erklärt, auf die man stolz ist. Wie sehr ich mir damit selbst geschadet habe, weiß ich erst seit einigen Jahren.

Und heute verstehe ich auch, warum ich das getan habe. Denn das Wie, also die Verhaltensebene zu verstehen, reicht hier nicht. Man kann zwar auf der Verhaltensebene Zeiten im Kalender blocken, aber wenn man nicht erforscht, warum es überhaupt solche Blocker braucht … wo dieser „Ach, das geht schon noch.“-Satz herkommt, sitzt man irgendwann doch wieder bis abends in der Praxis und ärgert sich über die eigene Inkonsequenz.

Von Herzen helfen

Sich den alten, angemessenen Protest über Bauch leer und Hose voll wieder zurückzuerobern, ist möglich. Und gerade für Menschen, die mit Menschen arbeiten wichtig. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Menschen, die man begleitet.

Denn wenn wir hier, wie unsere Bezugspersonen damals, unbewusst aus unseren alten Verzerrungen heraus agieren, sind wir nicht anders als unsere Bezugspersonen es damals gegenüber uns waren.

Natürlich ist es, von Herzen, also warm, liebevoll und ohne Eigennutz zu helfen. Dann ist Helfen auch nicht anstrengend. Dann kann helfen sogar sehr nährend sein.

Nur wenn wir helfen, weil wir unbewusst hoffen, dass dann vielleicht das Gegenüber dadurch uns helfen kann, stimmt was nicht. Dann wird Helfen zur unbewussten Manipulation und dieses Helfen kann dann ganz schön ärgerlich machen, wenn der oder die andere da nicht mitspielt. Denn dann ist der andere auf einmal undankbar … dann fühlt man sich nicht gesehen … dann geht es auf einmal um ausbleibende Wertschätzung … dann wird irgendwann einmal ein Ausgleich gefordert.

Zu lernen, dass das Benennen von Bedürfnissen ein Lebensrecht ist, dass wir alle in uns tragen, ist anfangs gar nicht so einfach. Denn diese Dynamik ist, wie eingangs schon sagte, nicht kompliziert, aber sehr komplex. Ja, vielleicht schießen wir am Anfang hier ein wenig übers Ziel hinaus und wir sind wieder hart und rigide, nur diesmal im Benennen und verteidigen unserer Bedürfnisse. Das gehört dazu, denn wenn ein Pendel so lange am einen Ende des Spektrum eingeklemmt war, schlägt es nach seiner Befreiung erst einmal deutlich in die andere Richtung aus. Um dann, mit der Zeit eine gute Mitte zu finden. Eine Mitte, von der aus es dann frei in beide Richtungen schwingen kann.

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