Großes T-Trauma, kleines t-Trauma. Warum sich mir bei dieser Unterscheidung die Nackenhaare aufstellen

Heute geht es mir um ein Thema, über das ich gerade gestolpert bin: die Unterscheidung zwischen großem „T“-Trauma und kleinem „t“-Trauma. Was ich da gelesen habe, hat mich ein bisschen sprachlos gemacht und das passiert bei mir selten. Und darum ist es mir ein persönliches Anliegen diesen Podcast zu nutzen um meiner Empörung Luft zu machen. Denn ich finde diese Unterscheidung nicht nur falsch, in meinen Augen ist sie fatal.

Ja, auf den ersten Blick scheinen diese Begriffe sinnvoll: Sie sollen beschreiben, wie unterschiedlich traumatische Erlebnisse sein können. Was aber passiert, wenn diese Unterscheidung dazu führt, dass Leid relativiert wird? Was passiert, wenn emotionaler Missbrauch, Vernachlässigung oder chronischer Stress im wahrsten Sinne des Wortes „klein gemacht“ werden – nicht nur in der Sprache, sondern auch in ihrer Bedeutung?

Genau das sehen wir heute häufig. Und genau das ist es, dieses kleinmachen, was dazu führt, dass Betroffene sich heute im System die Haken ablaufen, um angemessene Hilfe zu finden, die ihnen auch wirklich hilft.

Besonders problematisch wird das, wenn wir die wissenschaftlichen Ergebnisse der ACE-Studie, die den Einfluss von Kindheitserfahrungen auf die Gesundheit belegt, mit dieser fatalen Unterscheidung betrachten. Denn die Studie zeigt klar, dass emotionale Verletzungen genauso gravierende Folgen haben können wie dramatische äußere Ereignisse.

Im heutigen Podcast möchte ich erklären, was hinter der Unterscheidung zwischen großem „T“ und kleinem „t“ steckt, warum sie weder wissenschaftlich fundiert noch hilfreich ist, und warum ich es fatal finde, in solchen künstlichen Kategorien über dieses komplexe Thema zu sprechen.

Was bedeuten großes „T“ und kleines „t“?

Beginnen wir mit den Grundlagen. Die Begriffe großes „T“-Trauma und kleines „t“-Trauma werden in der Psychologie und einigen Bereichen der Traumatherapie oft genutzt, um verschiedene Arten traumatischer Erlebnisse zu beschreiben.

Kleiner Einschub: Die neuroaffektiven Traumatherapien wie Somatic Experiencing nach Dr. Peter Levine und NARM nach Dr. Laurence Heller verwenden so eine Unterscheidung zu keiner Zeit.

Ein großes „T“-Trauma steht dabei für massive, lebensbedrohliche Ereignisse wie Naturkatastrophen, Krieg, schwere Unfälle oder physische Gewalt. Solche Erfahrungen sind unmittelbar und offensichtlich traumatisch.

Ein kleines „t“-Trauma hingegen umfasst subtile, weniger sichtbare Verletzungen. Dazu zählen emotionale Vernachlässigung, emotionaler Missbrauch, ständige Kritik, chronischer Stress oder belastende Beziehungen. Diese Erlebnisse erscheinen auf den ersten Blick vielleicht nicht so dramatisch, können aber genauso tief in unser Leben eingreifen und langfristig zu psychischen Belastungen wie Angststörungen, Depressionen, körperlichen Symptomen oder Bindungsschwierigkeiten führen.

Die Unterscheidung wirkt auf den ersten Blick wie ein nützliches Werkzeug, um die Bandbreite traumatischer Erlebnisse zu erklären.

Doch das Problem beginnt bereits bei der Sprache: Indem wir eine Verletzung als „klein“ bezeichnen, laufen wir Gefahr, ihre Bedeutung zu schmälern. Besonders bei emotionalem Missbrauch oder Vernachlässigung, die in der Kindheit so oft vorkommen und doch unsichtbar bleiben, wird damit impliziert, dass diese Erfahrungen weniger ernst oder weniger behandlungswürdig sind. Das ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich.

Was die ACE-Studie wirklich zeigt

Die ACE-Studie (Adverse Childhood Experiences), eine der wichtigsten wissenschaftlichen Untersuchungen zu Kindheitserfahrungen und ihren langfristigen Auswirkungen, zeigt glasklar, WIE gravierend sogenannte „kleine t“-Traumata sein können.

In der Studie wurden verschiedene Arten belastender Kindheitserfahrungen untersucht – darunter emotionale und physische Vernachlässigung, emotionale Misshandlung, häusliche Gewalt oder die Abwesenheit eines Elternteils. Das Ergebnis ist erschütternd: Je mehr dieser Erfahrungen ein Kind macht, desto höher ist das Risiko, im späteren Leben chronische Erkrankungen, psychische Probleme oder sogar eine verkürzte Lebenserwartung zu entwickeln.

Die Ergebnisse der ACE-Studie beweisen also, dass diese Verletzungen keineswegs „klein“ sind.

Im Gegenteil: Emotionaler Missbrauch und Vernachlässigung können genauso schwerwiegende Folgen haben wie physische Gewalt oder andere sogenannte „große T“-Traumata.

Die Unterscheidung zwischen großem „T“ und kleinem „t“ ignoriert diese Fakten und führt dazu, dass gerade diese Erfahrungen – die oft weniger sichtbar sind – unterschätzt, nicht ernst genug genommen werden und klein gemacht werden.

Und genau hier liegt meine größte Kritik:

Die Sprache formt, wie wir denken.

Wenn wir emotionalen Missbrauch als „klein“ bezeichnen, implizieren wir, dass Betroffene weniger Recht darauf haben, sich Hilfe zu holen, als jemand, der eine Naturkatastrophe überlebt hat … dass sie sich im Vergleich zu Menschen, die ein großes T erlebt haben, anstellen … sich mal ein bisschen zusammenreißen sollen …  mit der Jammerei aufhören sollen … und ihr Leben endlich in den Griff bekommen sollen …

Das ist schlichtweg falsch und führt dazu, dass viele Menschen ihr Leid herunterspielen oder gar nicht erst benennen aus Angst, sich mit ihrem „Luxusproblem“ lächerlich zu machen.

Und so bleibt Betroffenen oft keine andere Möglichkeit als ihre kleinen t- Erlebnisse zu verdrängen … abzuspalten … oder mit Tabletten oder Alkohol zu betäuben …

Die Probleme mit „kleinem t“

Es gibt viele Gründe, warum die Unterscheidung zwischen großem „T“ und kleinem „t“ nicht nur ungenau, sondern auch schädlich ist.

Zum einen relativiert sie das Leid der Betroffenen. Wenn wir eine Erfahrung als „klein“ bezeichnen, obwohl sie für die betroffene Person ihr ganzes Leben beeinflusst, sprechen wir ihr unbewusst die Tiefe ihres Leids ab.

Betroffene von emotionalem Missbrauch oder Vernachlässigung fragen sich dann oft: „Ist mein Trauma überhaupt schlimm genug, um darüber zu sprechen?“ War ja nicht so schlimm … war ja damals normal … andere hatten es viel schlimmer als ich … alles in allem hatte ich eine gute Kindheit …

Das Ergebnis solcher Sätze ist, dass viele Menschen still leiden und keine Unterstützung suchen – obwohl sie diese dringend benötigen würden.

Ein weiteres Problem liegt in der Subjektivität von Trauma.

Was für die eine Person wie eine „kleine“ Belastung erscheint, kann für jemand anderen überwältigend sein. Ein Kind, das über Jahre hinweg ignoriert, kritisiert oder abgelehnt wird, erlebt dies als genauso existenziell bedrohlich wie ein anderes Kind, das eine Naturkatastrophe überlebt hat. Die Unterscheidung zwischen groß und klein spiegelt diese subjektive Realität nicht wider und führt dazu, dass subtile Verletzungen oft als weniger gravierend angesehen werden, als sie tatsächlich sind. Dass das zutiefst falsch ist, haben die neuroaffektiven Traumatherapien wie Somatic Experiencing und NARM verstanden und eine Sprache gefunden, die das Leid und den Schmerz der Betroffenen versteht und berührt.

Besonders kritisch ist in meinen Augen, dass die Unterscheidung die langfristigen Folgen unterschätzt.

Emotionale Vernachlässigung oder chronischer Stress hinterlassen genauso tiefe Spuren wie physische Gewalt – die Symptome mögen sich unterscheiden, aber die Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl, die Fähigkeit, gesunde Beziehungen zu führen, und die emotionale Stabilität sind nicht weniger gravierend.

Ein besserer Umgang mit Trauma

Wie können wir also besser über Trauma sprechen, ohne Leid zu relativieren oder zu hierarchisieren? Und ohne alle Traumata in einen Topf zu werfen und Gleichmacherei zu betreiben? Denn damit ist auch niemandem geholfen.

Genau das ist mir ein Herzensanliegen und dafür habe ich meine Trauma-Schule ins Leben gerufen. Ich möchte Menschen, die mit Menschen arbeiten darin unterstützen, traumasensibel zu werden und die nur scheinbar kleinen Hilferufen der nur scheinbar kleinen t-Traumata zu erkennen und ihnen angemessen begegnen zu können.

Der erste Schritt ist, uns von der Unterscheidung zwischen großem „T“ und kleinem „t“ zu lösen und diesen Blödsinn kategorisch aus dem Sprachgebrauch zu verbannen. Stattdessen sollten wir anerkennen, dass jede Form von Trauma individuell ist und ihre Bedeutung NICHT von äußeren Maßstäben abhängt.

Es wird Zeit, Trauma als Bezeichnung für ein Spektrum zu betrachten.

Manche Erlebnisse sind auf den ersten Blick dramatisch und sichtbar, andere sind subtiler und unscheinbarer. Aber beide Arten von Erlebnissen können tiefe Spuren hinterlassen – und beide verdienen unsere Aufmerksamkeit und unser Mitgefühl.

Wichtig ist auch, dass wir uns bewusst machen, wie viel Einfluss Sprache hat. Worte wie „kleines t“ minimieren und relativieren das Leid, auch wenn das nicht beabsichtigt ist. Wir sollten stattdessen darauf achten, alle traumatischen Erfahrungen ernst zu nehmen und sie nicht durch Kategorien zu bewerten.

Fazit

Zusammengefasst: Die Unterscheidung zwischen großem „T“- und kleinem „t“-Trauma mag gut gemeint sein, ist aber in meinen Augen im Grundsatz falsch und irreführend.

Sie spiegelt weder die Ergebnisse der ACE-Studie noch die subjektive Realität der Betroffenen wider und relativiert vor allem die Bedeutung von emotionalem Missbrauch und Vernachlässigung. Und es wird Zeit, dass genau das endlich aufhört.

Trauma ist immer individuell. Egal, ob es sich um eine dramatische Erfahrung oder um subtile, wiederholte emotionale Verletzungen handelt – jede Form von Trauma verdient Anerkennung und Unterstützung. Es ist an der Zeit, diese künstliche Hierarchisierung zu hinterfragen und den Fokus darauf zu legen, wie wir das Leid der Betroffenen wirklich lindern können.

Jede Erfahrung zählt – und kein Trauma ist jemals „zu klein“, um ernst genommen zu werden.

Schreib doch mal in die Kommentare, wie es dir mit dieser Unterscheidung von großem T-Trauma und kleinen t-Trauma geht und wie es für dich war, meinem Podcast zu lauschen.

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