Die Wellen des Lebens reiten | Teil 3: Scham, Angst und die ‘magische Phase’

In Teil 1 dieser kleinen Serie ging es darum, welchen Einfluss Trauma auf unser Nervensystem und damit die Kapazität zu Leidenschaft und Begeisterung hat. In Teil 2, warum wir Menschenkinder die Wellen des Lebens am liebsten vermeiden würden und nun in Teil 3 nehme ich Angst und Scham ein bisschen genauer unter die Lupe.

Denn kaum etwas anderes kommt unserer Kapazität die Wellen des Lebens zu reiten und unserem Körper zu lauschen so in die Quere wie Angst und Scham.

Ich mag aber, bevor ich loslege, noch kurz einen Begriff klären. Denn:

Was meine ich eigentlich mit „Die Wellen des Lebens reiten“?

Nach meinem Verständnis findet alles in unserem Leben in Zyklen statt. Wir werden geboren und irgendwann sterben wir. Das ist der wohl größte persönliche Zyklus. Und dazwischen gibt es unzählige kleine, mittlere und große Zyklen. Kindergarten, Schule, Uni, Job, Rente … Paar werden, Eltern werden, vielleicht Großeltern werden … Paar werden, sich trennen, neu verlieben … Freunde finden, Freunde verlieren … Job anfangen, Job wechseln, Job verlieren … das meine ich mit Zyklen.

Alles, was einen Anfang hat, hat irgendwann einmal auch ein Ende.

Das ist ein kosmisches Prinzip und in der Natur sehen wir es anhand der Jahreszeiten, der Gezeiten uvm. Tiere in der freien Natur wissen, wann es Zeit ist sich zu paaren, damit der Nachwuchs optimale Bedingungen hat, um zu überleben. Oder sie folgen der Wärme und wechseln zweimal im Jahr, teilweise unter Lebensgefahr, die Kontinente.

Nur wir Menschenkinder versuchen uns, wenn möglich, diesen Zyklen zu verweigern oder zu entziehen. Das heißt, wir gehen nicht mit den natürlichen Bewegungen des Lebens mit. Wir wollen nicht älter werden und greifen zu Botox & Co. … wir wollen nicht allein sein und bleiben in einer toxischen Beziehung, obwohl wir spüren, dass uns das nicht gut tut … wir bleiben im ungeliebten Job, weil wir keine Idee haben, was wir sonst tun sollen …

Würden wir mit diesen durchweg natürlichen Wellen einfach mitgehen und uns an sie anpassen, würden wir in unserem Leben viel mehr Flow erleben.

Aber stattdessen haben wir uns durch unser sogenanntes modernes Leben nahezu komplett von diesen natürlichen Zyklen abgeschnitten. Wir kriegen sie teilweise gar nicht mehr mit, geschweige denn geben wir uns den Wellen des Lebens hin. Wir schalten das elektrische Licht an, wenn es dunkel wird … wir essen obwohl wir satt sind … wir fahren im Winter auf die Kanaren.

Denn ja, auch ich entziehe mich dem natürlichen Zyklus der Jahreszeiten dadurch, dass ich auf den Kanaren, den Inseln des ewigen Frühlings überwintere. Und ich merke, dass es für meinen Körper anstrengend ist, dass er durch die fehlende Winterdunkelheit die ich in Deutschland hätte, weniger Ruhe bekommt. Ich darf hier noch einmal ganz anders lernen mit meinen Kräften zu haushalten. Und gleichzeitig tut das Leben hier meiner Seele unendlich gut.


Und auch das ist ein kosmisches Prinzip: man zahlt immer einen Preis, es braucht immer einen Ausgleich. Und das sage ich jetzt nicht aus Resignation oder gar Verbitterung, sondern aus tiefer Akzeptanz. Man kann nicht alles haben … man kann nicht nur geben, man muss auch nehmen … man kann nicht nur nehmen, man muss auch geben.

Und wenn ich die Vorzüge der Sonne hier auf den Kanaren haben will, kann ich nicht gleichzeitig von meinem Körper permanente Höchstleistung fordern. Denn wie auch die Natur brauchen wir nun einmal die Verlangsamung und den Rückzug des Winters um wieder Kraft für den nächsten Frühling und Sommer zu tanken. Die Natur könnte die Energie, die ein ewiger Frühling brauchen würde, nicht aufrechterhalten, sie würde im Burnout landen. Was wir Menschen dann ja auch irgendwann tun, wenn wir nicht auf uns aufpassen. Daher werfen auch hier auf den Kanaren die Bäume im Herbst das Laub ab und auch hier ist jetzt Frühling mit einer wundervollen Mandelblüte.

Nur wir Menschen wollen alles haben … wollen auf nichts verzichten … wollen nicht langsam machen … wollen nicht akzeptieren, dass der Körper nicht ewig so kann wie wir wollen.

Was hat nun all das mit Angst und Scham zu tun?

Bleiben wir dafür beim Beispiel des Alterns. Und auch wenn du, liebe Hörerin oder lieber Hörer, vielleicht erst Anfang 20 oder 30 bist: ich habe neulich mit einer 29jährigen Camperin gesprochen, für die der Gedanke an ihren drohenden 30. Geburtstag ein Albtraum war. Also die Angst vor dem Altern ist nicht uns Ü 50gern vorbehalten.

Die Angst und die damit verbundene Scham zu altern … Falten zu bekommen … hässlich zu werden … einen schlaffen, womöglich noch kranken Körper zu bekommen, ernährt ganze Industrien. Der Versuch, dieser Welle des Lebens zu entkommen oder sie zumindest nach hinten zu schieben, kann bis zur Selbstverstümmelung gehen. Ein Blick nach Hollywood reicht und man kann nur erstaunt und kopfschüttelnd sehen, was heute so alles möglich ist.

Aber warum gehen manche Menschen so weit?

Was treibt sie an? Und woher kommt diese Angst und die Scham?

Die Kurzversion ist: wenn wir in unserer frühen Kindheit nicht erleben konnten, dass wir besonders … dass wir einmalig sind … haben wir wie eine Lücke in unserem Selbstbild.

Um das ein bisschen genauer zu erklären, mache ich einen kurzen Ausflug in die Entwicklungspsychologie.

Die magische Phase

Kinder durchlaufen etwa zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr eine wichtige Entwicklungsphase, in der sie ein Gefühl dafür entwickeln, wer sie sind und wie sie in die Welt passen. In dieser sogenannten magischen Phase verschwimmen Fantasie und Realität, und Rollenspiele wie ‚Prinzessin‘ oder ‚Superheld‘ stehen hoch im Kurs. Gerade jetzt ist es besonders wichtig, Kindern das Gefühl zu geben, etwas Besonderes zu sein – Mädchen dürfen sich wie eine Prinzessin fühlen, Jungen stark und mutig. Diese positive Bestärkung hilft ihnen, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln und fördert gleichzeitig ihre Kreativität.

Und jetzt bitte nicht falsch verstehen: Wichtig ist dabei, ihnen vielseitige Rollenbilder zu zeigen und nicht starr in Geschlechterklischees zu denken. Jedes Kind sollte sich sowohl stark und mutig als auch wertvoll und besonders fühlen dürfen. Auch Jungs wollen Prinzen sein und Mädchen Heldinnen.

Wurde diese magischen Phase zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr nicht ausreichend unterstützt, hat sich das Umfeld darüber vielleicht sogar lustig gemacht und das Kind beschämt, kann sich die Kraft der ‚Prinzessin‘ und/oder des ‚Superhelden‘ nicht entfalten.

Die magische Phase ist sehr verletzlich.

Und ich mag an dieser Stelle den Blick auf einen wie ich finde höchstbedenklichen Trend und ein fatales Missverständnis lenken und Eltern hier sensibilisieren und achtsam machen:

In der magischen Phase zwischen etwa 3 und 6 Jahren geht es bei Kindern zu keiner Zeit um Sexualität im erwachsenen Sinne, sondern um spielerische Identitätsfindung. Mädchen wollen sich wie Prinzessinnen fühlen, Jungen wie starke Helden – dabei geht es um Fantasie, nicht um sexuelle Motive!

Die Prinzessin flirtet nicht im erwachsenen Sinne mit dem Vater und der kleine Held nicht mit der Mutter. Es ist erschreckend, wie in manchen Einrichtungen unter dem Deckmantel der ‚sexuellen Früherziehung‘ völlig unnötig Themen aufgebracht werden, die Kinder in diesem Alter schlicht überfordern. Statt ihnen Raum für natürliche Neugier und unbeschwertes Spielen zu geben, wird oft eine Frühsexualisierung forciert, die mehr Schaden anrichtet als nützt. Was Kinder in ihrer magischen Phase brauchen, ist Geborgenheit, ein gesundes Selbstwertgefühl und die Freiheit, spielerisch ihre Welt zu entdecken – ohne Erwachsene, die ihre Unschuld durch übertriebene Aufklärung stören.

Ein großes Missverständnis

Denn oft wird diese Phase mit dem Ödipuskomplex verwechselt, doch das ist ein Missverständnis. Während der Ödipuskomplex nach Freud beschreibt, dass Kinder unbewusst romantische Gefühle zum gegengeschlechtlichen Elternteil entwickeln, bleibt die magische Phase unschuldig. Hier geht es nicht um Begehren, sondern um das Erlernen von Rollenbildern und sozialen Strukturen. Kinder ahmen nach, was sie sehen, wollen dazugehören und geliebt werden – aber eben auf eine völlig unschuldige kindliche, nicht-sexuelle Weise. Es ist entscheidend, diesen Unterschied klar zu erkennen, um Kinder nicht unnötig zu verunsichern oder ihre natürliche Entwicklung fehlzuinterpretieren und damit nachhaltig zu stören.

Hier braucht es Bezugspersonen, die entweder selbst in ihrer Kindheit die magische Phase gut begleitet erlebt oder ihre eigenen Schatten bereits gut geklärt haben. Hat das beides nicht stattgefunden, liegen die Zutaten für transgenerationales Trauma auf dem Tisch.

Denn Bezugspersonen, die auf diese Rollenspiele … die auf das Prahlen des Helden oder das Kokettieren der Prinzessin … belustigt oder gar beschämend reagierend, hinterlassen das Kind zutiefst verunsichert. Das Gefühl falsch zu sein kriecht in die jungen Seelen rein und wenn die Bezugspersonen hier aufgrund eigener Unbewusstheit keine korrigierende Erfahrung anbieten, setzt es sich fest … und bleibt.

Dann erlebt das Kind die magische Phase nicht als stärkend und bestärkend, sondern als zutiefst verwirrend und verunsichernd. Was bleibt ist Scham und Angst sich zu zeigen.

Entwicklung eines kraftvollen Selbstbildes

Diese Phase ist für die Entwicklung eines kraftvollen Selbstbildes von zentraler Bedeutung und hier entsteht eine der wichtigsten Grundlage für Selbstvertrauen … also das Vertrauen in sich selbst … um später im Leben den Wellen des Lebens kraftvoll, vertrauensvoll und offen begegnen zu können.

Wurde die kraftvolle Welle der magischen Phase unter Scham erstickt, haben wir auch später im Leben Angst uns zu zeigen … dann haben wir Angst wieder beschämt zu werden, wenn wir uns zeigen. Und mal Hand aufs Herz: wer will das schon?

Ich wiederhole hier noch einmal, was ich anfangs gesagt habe, denn es ist wichtig, dass das nicht falsch verstanden wird: ‚Prinzessin‘ oder ‚Superheld‘ sind keine Geschlechterklischees und man muss Mädchen hier nicht in Tüll hüllen und mit Jungs auf Bäume klettern. Es geht darum achtsam und respektvoll mit dem, was sich in dem kleinen Mädchen oder dem kleinen Jungen zeigt … was sich zeigen möchte … was gesehen und bewundert werden möchte … umzugehen. Die magische Phase ist eine sehr verletzliche Phase und Kinder, die dank achtsamer, selbstreflektierter Bezugspersonen hier den Grundstein für ein gesundes Selbstvertrauen legen können, haben es später im Leben leichter.

Nimm dir jetzt gerade einen Moment und spür in dir nach:

  • Wie fühlt sich der Gedanke an deine magische Phase … also die Zeit als du so ungefähr 3-6 Jahre alt warst an?
  • Wie fühlt es sich an die Prinzessin oder den Prinzen, an den Superhelden oder die Superheldin in dir zu denken?
  • Was passiert in dir, wenn du dir gerade vorstellst vor dem kleinen Mädchen oder dem kleinen Buben zu stehen und auf dieses 3-6 jährige Kind zu schauen?

Taucht da ein Gefühl von Unsicherheit und vielleicht ja sogar ein bisschen Scham auf? Wenn ja, bleib – wenn möglich – ein bisschen dabei und geh nicht weg … weich dem – wenn möglich – nicht aus. Du musst auch nicht tiefer einsteigen … wahrnehmen ist genug.

Vielleicht spürst du jetzt den Impuls einmal tief durchzuatmen … tu das. Denn das ist die Sprache unseres Nervensystems, wenn es alten Druck ablassen kann. Meistens fühlen wir uns danach dann ein bisschen schwerer … mehr mit der Schwerkraft verbunden … die Energie im Körper geht dann nicht mehr nach oben, sondern sackt ein bisschen runter.

Und das alles nur, weil wir für einen Moment NICHT vor unseren eigenen Emotionen und Empfindungen weggelaufen sind … weil wir entdecken konnten, dass wir selbst so unangenehmen Zustanden wir Scham und Verunsicherung heute als die Erwachsenen die wir heute nun einmal sind, begegnen können.

Ein Kind, das in der magischen Phase ausgelacht wird, wird von der Scham überwältigt. Es hat keine Chance dem innerlich auch nur irgendetwas entgegenzusetzen. Es kollabiert. Und zieht sich aus Verwirrung, Schmerz und Enttäuschung zurück.

Die neuroaffektiven Therapien und hier allen voran NARM, das Neuroaffektive Beziehungsmodell von Dr. Laurence Heller, hilft, diese alten Beschämungen und die daraus resultierende Angst sich zu zeigen, achtsam und nachhaltig aufzulösen.

Denn dank der Neuroplastizität unseres Gehirns muss man diese alten Unachtsamkeiten nicht ein Leben lang mit sich rumschleppen. Man kann die magische Phase auch später im Leben jederzeit nachholen. Heute mit einem eingestimmten, selbst in sich geklärten Gegenüber der Prinzessin oder dem Prinzen, dem Superhelden oder der Superheldin in sich zu begegnen, kann dem Leben eine neue Qualität geben.

Dann können wir den Wellen des Lebens kraftvoll begegnen, denn wir haben das Vertrauen in uns selbst, dass wir das schon hinbekommen … das wir das auf unsere Weise hinbekommen. Dann müssen wir die Wellen nicht fürchten … dann müssen wir nicht versuchen ihnen auszuweichen … dann können wir lustvoll altern … dann können wir den Charme jeder neuen Lebenswelle in uns willkommen heißen und uns ihr hingeben.

Inhalts­verzeichnis