Aufschieberitis. Wie Aufschieberitis. Wie entsteht sie? Und was kann ich dagegen tun?

Immer mal wieder taucht das Thema Aufschieberitis in meinen Klientengesprächen auf. Erst vor ein paar Tagen durfte ich hierzu mal wieder eine interessante Forschungsreise mit meinem Klienten machen.

Und auch dieser Klient war vor allem eins: genervt von sich selbst. In so vielen Lebensbereichen konnte er strukturiert und konzentriert selbst unliebsame Aufgaben einfach abarbeiten. Und trotzdem gab es da diese schwarzen Löcher wo er klar und bewusst sich selbst beim Aufschieben beobachten konnte. Und das nervte. Nicht nur ihn, auch seine Umgebung.

Ihm war es komplett schleierhaft, warum er es manchmal konnte und manchmal nicht. Und das wollte er sich anschauen.

Um den zugrundeliegenden Dynamiken auf die Schliche zu kommen, frage ich meine Klienten zu Beginn unserer Forschungsreise nach einem konkreten Beispiel, am besten ein aktuelles, denn da steckt der meiste Juice drin. Bei ihm waren es Zahlen die er für seinen Steuerberater zusammenstellen muss. Und schon waren wir mittendrin in der Dynamik.

Er fing an über sich selbst zu zetern und zu erklären, wie einfach doch eigentlich alles sei … dass es zwar ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen würde, aber dann wäre es erledigt … und außerdem sei es in vielerlei Hinsicht wichtig diese Zahlen zusammenzustellen … etc. … etc.

Er saß unruhig auf seinem Stuhl und schimpfte mit sich. An dieser Stelle habe ich es bei anderen Klienten auch schon erlebt, dass sie nicht gegen sich wettern, sondern gegen Gott und die Welt schimpfen. Dann nervt der Steuerberater … das Finanzamt … die Steuergesetzgebung … und überhaupt … In seinem Fall beschränkte sich sein Schimpfen aber nur auf sich selbst.

Lassen wir die Logik eine Weile außen vor

Ab hier ist es dann wichtig die Logik mal eine Weile außen vor zu lassen. Denn die hat ja recht. Es wäre für diesen erfolgreichen, intelligenten, smarten jungen Mann keine Raketenwissenschaft diese Liste für seinen Steuerberater zusammenzustellen. Der Hase liegt also woanders im Pfeffer.

Hier die Kurzversion, wo er im Pfeffer liegt:

Wir rutschen unbewusst in solchen Momenten in einen Teil unseres kindlichen Bewusstseins. Deswegen fühlt es sich im Hier und Jetzt ja auch so komisch und irgendwie schräg an.

Was genau passiert in diesen Momenten?

Wenn wir etwas tun MÜSSEN worauf wir aber keine Lust haben, greifen wir auf ein altes Muster, das wir in der Kindheit entwickelt haben, zurück. Und da es ein kindliches – nicht kindisches und die Unterscheidung ist wichtig – da es ein kindliches Muster ist, also aus einer ganz anderen Zeit stammt, funktioniert es heute auch nicht mehr. Denn es kann gar nicht funktionieren. Schließlich waren wir damals nicht mal in der Schule als dieses Muster entstanden ist und die Aufgabe, also in diesem Fall eine Liste für einen Steuerberater zusammenzustellen, braucht das Wissen und Verständnis eines Erwachsenen.

Und was tut ein Kind wenn es mit einer unliebsamen Aufgabe überfordert ist? Es versucht sich der unangenehmen Situation irgendwie zu entziehen, meist indem es den gegenwärtigen Moment ausblendet … ein bisschen dissoziiert … so tut als wäre nix …  und was Neues anfängt.

Greifen wir dann Jahre später weil wir keine Lust auf die unliebsame Aufgabe haben, auf dieses alte Muster zurück, tun wir unbewusst wieder das, was wir als Kinder getan haben: wir versuchen uns der unangenehmen Situation irgendwie zu entziehen … blenden den gegenwärtigen Moment aus … dissoziieren ein bisschen … tun so als wäre nix …  und fangen was Neues an.

Nur verlieren wir dabei heute zusätzlich den Kontakt zu unseren Fähigkeiten um die eigentlich für uns als Erwachsene durchweg machbaren Aufgabe anzugehen und zu lösen.

Ja, ich weiß … das ist jetzt alles sehr dicht und komplex. Und erscheint auf den ersten Blick auch ein bisschen konstruiert und weit hergeholt. Kurzversion eben. Daher nehme ich mir jetzt ein bisschen mehr Zeit und dekonstruiere diese komplexe Dynamik. Und die ist im Kern ziemlich clever.

Aus Sicht des kindlichen Bewusstseins

Denn was genau in so einem Moment aus der Perspektive des kindlichen Bewusstseins in uns passiert, ist bei Tageslicht betrachtet durchweg logisch und nachvollziehbar. Und daher lade ich dich kurz ein mit mir den Blickwinkel zu wechseln und für die nächsten Minuten einmal nur durch die Augen eines Kinder zu schauen. Gib deiner Erwachsenen-Logik bitte bewusst für eine Weile einen Platz im Zuschauerraum. Ich verspreche dir, es lohnt sich und ist eine Technik, die auch in anderen Lebensbereichen wahre Wunder bewirken kann.

Lass uns also gemeinsam die Welt für eine Weile durch die Augen eines 3-4-jährigen Kindes sehen.

Dieses 3-4-jährige Kind macht den ganzen Tag nichts anderes als seine oder ihre Welt zu entdecken und sich auszuprobieren. Endlich kann er oder sie gut laufen, vielleicht schon Fahrradfahren und das Entdecken der eigenen Autonomie und das Austesten von Grenzen ist gerade das, worum es in dem kleinen Kopf am meisten geht. Und dann kommt eine Bezugsperson und schimpft über die Unordnung im Kinderzimmer und ist der Meinung, so blöde Sachen wie Aufräumen in die Erziehung einbauen zu müssen.

Das Kind muss also sein Spiel unterbrechen und bekommt gesagt was es zu tun hat … wo die Bestandteile der kleinen Welt, die das Kind da in seinem Zimmer gebaut hat, in Wahrheit hingehören … seiner Fantasywelt wird unterstellt sie sei Chaos. Und das Kind, gerade noch im Spiel vertieft, versteht die Welt kurz nicht mehr.

Es bekommt nur mit, dass es etwas falsch gemacht hat. Was? Keine Ahnung. Denn das gute Gefühl beim Spielen passt nicht zu dem Schimpfen der Bezugsperson. Hinzu kommt: Für ein Kind in diesem Alter existiert das Konzept Ordnung noch nicht. Jedenfalls nicht in der Art wie ein Erwachsener es sieht.

Als ersten Impuls mault das Kind und versucht sich der in seinen Augen komplett überflüssigen und unverständlichen Anweisung zu entziehen. Und hier wird das Kind dann schnell lernen: es hat keine Chance. Es muss. Es muss beim Aufräumen mitmachen.

Die Keimzelle der späteren Aufschieberitis

ABER und hier liegt die Keimzelle der späteren Aufschieberitis: das Kind findet ein Schlupfloch. Es trödelt … es macht langsam … es macht immer wieder Pausen … spielt kurz mit dem einen Teil, dann kurz mit einem anderen … es versteckt Dinge … es bleibt nicht – im Rahmen seiner altersmäßigen Kapazität – mit am Ball.

Warum macht das Kind das? Weil es so ein bisschen Macht behält. Und das ist der Dreh- und Angelpunkt.

Indem es sich im Rahmen seiner Möglichkeiten entzieht, fühlt es sich nicht komplett machtlos. Denn egal wie und ob die Bezugsperson schimpft und antreibt, darauf WIE das Kind mitmacht, hat sie nicht wirklich Einfluss. Egal wie eng sie den Rahmen zieht.

Das Kind macht also scheinbar weil notgedrungen mit, während es gleichzeitig jedes Schlupfloch nutzt um zumindest ein bisschen doch nicht mitmachen zu müssen.

Wie clever!

Und hier möchte ich kurz verweilen und dich auf die Weisheit dieses Kindes aufmerksam machen. Denn wir clever ist das bitte?

Okay … aus Sicht der Bezugsperson mag es schwer fallen in so einem nervenaufreibenden Moment so auf das Kind zu schauen, aber genau darum geht es mir. Es geht mir darum, dass Eltern ab und zu ein bisschen entwicklungspsychologisch auf ihre Sprösslinge schauen … also mehr durch die Augen ihres Kindes schauen. Nicht um dann dem bockigen Kind seinen oder ihren Willen zu lassen. Nein, auf keinen Fall. Was dabei raus kommt sind nur kleine Tyrannen und von denen haben wir in der Welt aktuell schon mehr als genug.

Es geht darum in diesem Moment selbst erwachsen zu sein und das größere Bild im Blick behalten zu können. Also die beiden Pole aus Notwendigkeit das Chaos im Wohnzimmer gemeinsam aufzuräumen weil gleich Besuch kommt und kindlichem Protest gut in sich halten zu können.

Nur leider haben viele Eltern selbst in ihrer Kindheit nicht erlebt, wie man mit diesem Spannungsfeld aus kindlicher Freiheit und der Notwendigkeit von Regeln im Zusammenleben … gut umgeht. Hier ist viel Unsicherheit im Spiel und die wird meist entweder mit zu viel Strenge oder mit zu schneller Nachgiebigkeit kaschiert.

Hier hilft es, ein bisschen über Bindungsdynamiken zu wissen.  

Denn wenn ich als Bezugsperson verstehen und nachvollziehen kann, warum mein Kind gerade bockig ist … warum es dissoziiert und ich es wie nicht erreichen kann … warum es trödelt … warum es sein Verhalten immer und immer wieder wiederholt, obwohl ich es ihm oder ihr schon tausendmal gesagt habe … dann muss ich weder in die Strenge gehen, noch nachgeben.

Dann kann ich als Erwachsener oder Erwachsene mein Kind durch diesen Lernschritt durchbegleiten. Im eingestimmten Kontakt und in Klarheit. Auch wenn Protest kommt – und der wird kommen – … auch wenn Tränen kommen.

Nur leider schauen viele Bezugspersonen hier eben nicht durch die Augen des Kindes. Sie sehen das Chaos im Wohnzimmer und dass gleich Besuch kommt … also muss jetzt aufgeräumt werden. Das Kind sieht eine Spielwelt in der magische Wesen tolle Dinge tun … in der geheime Kräfte wirken … und die jetzt vernichtet werden soll weil irgendwer zum Kaffee kommt. Und dann soll das Kind dabei sogar noch helfen. Um Ordnung zu schaffen. Ein Konzept, dass wie gesagt ein Kind noch überhaupt nicht versteht. Und es wird auch noch einige Jahre dauern bis sein Gehirn das verstehen können wird.

Ja, ich kenne die Einwände, dass es Kinder gibt die gerne aufräumen und das nicht nur weil sie im Sternzeichen Jungfrau geboren sind. Ja, diese Kinder gibt es. Aber sind wir mal ehrlich: welches Kind spielt ordentlich? … Zu kindlichem Spiel gehört Chaos. Sonst wäre es kein freies, kreatives Spiel.

Die traurige Wahrheit

Und so lautet die traurige Wahrheit: egal wie pädagogisch wertvoll man das gemeinsame Aufräumen gestaltet, man muss immer zu einem Teil gegen den Willen des Kindes arbeiten. Da erzähle ich Eltern nichts Neues. Das ist mir bewusst.

Und das an sich ist nicht des Pudels Kern und führt im späteren Leben nicht automatisch zu Aufschieberitis.

Es ist nicht das Aufräumen müssen, es ist das wie das Kind die unliebsame Aufgabe absolvieren muss. Und hier sind Bezugspersonen echt gefordert, einen guten Umgang mit dem Protest des Kindes zu finden. Und mir ist durchweg bewusst, dass das auch wahrlich ein schmaler Grad ist.

Ich ziehe vor allen Bezugspersonen, die diese Gradwanderung überwiegend ruhig, konsequent und liebevoll hinbekommen meinen Hut bis runter zum Boden. Schließlich sind diese kleinen Menschen nicht nur in ihrer Fähigkeit sich anzupassen genial clever, sie sind es auch im Finden der Lücken und Schwachstellen beim Gegenüber. Hier nicht den Humor zu verlieren wenn einem das eigene Kind gnadenlos den Spiegel hinhält, ist eine Leistung für sich.

Dein Weg raus aus alter Aufschieberitis

Aber zurück zur Aufschieberitis und wie man dann später im Leben diesem kindlichen Muster mehr und mehr einen Riegel vorschieben kann.

Hier sind es wieder die für die Neuroaffektive Arbeit klassischen Zutaten:

  • Bewusstheit
  • Achtsamkeit
  • ein bisschen Humor
  • ein liebevollerer Umgang mit sich selbst

Und damit aus diesen Zutaten in Zukunft ein wirkungsvollen Anti-Aufschieberitis-Programm wird, startest du neue Aufgaben mit einer simplen Frage:

Habe ich Lust auf diese Aufgabe?

Wenn Ja, alles gut. Dann ist es auch höchst unwahrscheinlich, dass du sie auf die lange Bank schiebst.

Wenn Nein, dann nimm dir BEVOR du loslegst Zeit und hinterfrage für dich, WARUM du keine Lust hast. Und sei an dieser Stelle ehrlich. Denn rate mal wozu Selbstbeschiss an dieser Stelle führt? Richtig. Zu Aufschieberitis.

Und lass an der Stelle die Logik komplett außen vor. Wie du jetzt ja weißt, wirken bei Aufschieberitis Kräfte jenseits der Logik. Es ist also nicht hilfreich dir zu sagen, dass die Aufgabe aber wichtig … oder sinnvoll … oder notwendig … oder ein Versprechen an jemanden … oder was auch immer ist.

Ich habe keine Lust darauf … weil die Aufgabe langweilig ist … oder weil sie doof ist … oder weil ich viel lieber etwas anderes in der Zeit tun würde … oder weil ich sie nicht einsehe, denn schließlich zahle ich ja meinen Steuerberater damit ich so einen Kram nicht selber machen muss … oder weil es echt mühsam für mich ist da ich hierfür komplett Talentbefreit bin …

Oder was auch immer eine ehrliche Antwort in Bezug auf diese Aufgabe ist.

Und mehr Analyse solltest du überhaupt nicht machen. Kotz dich einfach kurz aus. Erlaub der Null-Bock-Stimme Gehör zu finden.

Du wirst merken, ist die Katze erst einmal aus dem Sack, fällt es leichter sich mit einem Stoßseufzer an die unliebsame Aufgabe zu machen.

Und dann leg los

Und zwar achtsam und behutsam mit dir. Sei auch hier ehrlich mit dir und zwing dich nur so viel, wie sich gerade noch okay anfühlt.

Wenn ich mich durch irgendeinen Kram durchbeißen muss, mache ich eine kleine Pause wenn ich merke, mein innerlicher Druck … mein innerlicher Widerstand wächst. Dann geh ich ans Fenster oder hol mir was zu trinken oder fluche laut oder starre einfach ein paar Löcher in die Luft. Aber ich gehe nicht weg von der Aufgabe. Ich bleibe dran. Und bleibe freundlich mit mir.

Denn seitdem ich für mich verstanden habe, dass es nur ein altes Muster ist, dass versucht dem, der mir die Aufgabe aufs Auge gedrückt hat, ein Schnippchen zu schlagen … damit ich mich nicht ganz so machtlos fühle … kann ich klar sehen: ich schade damit alleine mir.

Aus der Perspektive des kindlichen Bewusstseins kann ich das nicht sehen. Denn ein Kind kann nicht über den Tellerrand schauen. Ein Kind ist im Hier und Jetzt und da ist es gerade blöd. Hier brauchen Kinder eine erwachsene Bezugsperson, die das Dilemma des Kindes erkennen und dem Kind altersgerecht helfen kann, die Aufgabe zu meistern ohne das Gefühl zu haben, sich selbst dabei verraten zu müssen. Solche Kinder neigen dann später weniger zur Aufschieberitis.

Ein scheinbar so simple Satz wie: „Ich kann verstehen und ich sehe, dass du jetzt überhaupt keine Lust hast aufzuräumen. Und darum machen wir Zwei das jetzt schnell zusammen. Welches Spielzeug dürfen wir denn auf keinen Fall wegräumen?“ signalisiert dem Kind, dass es wahrgenommen und ernst genommen wird. Und mehr braucht es im Kern nicht. Ein Kind, dass sich gesehen fühlt, muss nicht ausblenden … muss nicht nach Schlupflöchern suchen.

Und dann kann der Erwachsene, der wir heute sind, die Aufgabe erledigen. Dann muss kein übersehener Anteil von uns durch Sabotage auf sich aufmerksam machen.

Und dann dürfen wir mit recht stolz auf uns sein, dass wir dran geblieben sind …

Ich wünsche dir jetzt erst einmal viel Spaß beim forschen und ausprobieren. Und wenn dir der Podcast gefallen hat, abonniere am besten gleich meinen Kanal. Dann verpasst du ab sofort keine neue Folge mehr.

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