„Ich will so nicht sein!“ „Ich will so nicht wahrgenommen werden!“ Sätze wie diese höre ich häufig in Einzelsitzungen. Und meistens geht es um eine Eigenschaft eines Elternteils, die man tunlichst versucht im eigenen Leben nicht zu haben.
Man will nicht sein, wie der cholerische Vater … die launische Mutter … man will nicht aufbrausend, ewig leidend, rigide, herrisch, verlogen, manipulativ, übergriffig oder was auch immer sein. Man meidet Alkohol bis hin zur Verachtung und würde selbst im Streit niemals laut werden oder gar die Hand erheben.
Nur hat diese Strategie ein paar ziemlich blöde Haken und um die geht es mir in diesem Podcast.
Ehrenwert. Und unmöglich.
So verständlich und ehrenwert es ist, dass man Eigenschaften der Eltern unter denen man als Kind gelitten hat, z. B. bei den eigenen Kindern nicht wiederholen möchte, so trügerisch ist es zu meinen, dass man die Tür so einfach komplett verschließen und den Schlüssel weit von sich werfen könnte.
Denn nur weil man Nein zu etwas sagt, ist es nicht automatisch weg.
Gerade Emotionen sind viel zu facettenreich und vielschichtig, als dass man sie einsperren oder unter Kontrolle halten könnte. Gerade so energiereiche Emotionen wie Wut bahnen sich ihren Weg und nur weil man ein Kind nicht schlägt, bedeutet es nicht, dass es die Wut der Bezugsperson nicht mitbekommt. Gerade Wut ist pure, kraftvolle Energie und Kinder spüren sehr klar, wenn es im Gegenüber brodelt. Es braucht nicht erst eine Ohrfeige, damit Kinder spüren was gerade los ist und in Deckung gehen.
Unterdrückte Wut
Ich habe schon oft von Klientinnen und Klienten gehört, dass der Versuch der Bezugsperson sich unter Kontrolle zu halten, als sehr bedrohlich erlebt wurde. Zu fühlen, dass die Bezugsperson gerade die Energie einer tickenden Bombe hat, macht einem Kind Angst. Und je nach Alter kann ein Kind überhaupt nicht verstehen, was gerade los ist. Es spürt nur, dass es hier … in der Nähe der Bezugsperson nicht sicher ist. Nur: wo soll ein Kind denn hin? Es muss bleiben und daher versuchen Kinder, es durch Anpassung nicht noch schlimmer zu machen.
Und so wird das Kind vielleicht ganz still und zieht sich zurück … vielleicht wird es durch eine Clownerei versuchen, die Stimmung zu drehen … vielleicht wird es so mutig sein und versuchen körperlichen Kontakt aufzunehmen … vielleicht wird es die Energie auch aufnehmen und selbst aufdrehen, hyperaktiv und wütend werden. Und sollte irgendetwas davon funktionieren, wird das Kind daraus lernen und es beim nächsten Mal wieder so machen. Und beim nächsten Mal. Und beim nächsten Mal. Und irgendwann ist daraus ein Muster geworden auf das wir dann auch später im Leben im Angesicht von Wut zurückgreifen.
Das Kind wurde dann zwar z. B. nicht geschlagen, hat die Energie aber dennoch komplett abbekommen … hat sich dennoch unwohl gefühlt und vielleicht dennoch Angst vor der Bezugsperson gehabt … hat sich dennoch nicht sicher in der Gegenwart der Bezugsperson gefühlt. Die Dynamik ist die gleich, sie sieht nur anders aus.
Blöd, wenn es uns aus allen Poren strömt
Und das passiert nicht nur zwischen Eltern und Kindern. Auch in Partnerschaften und selbst im Job empfängt unser Gegenüber unsere nonverbalen Signale, spürt – wenn auch zumeist unbewusst – das Brodeln im Kessel des anderen. Man muss also gar nicht nicht erst cholerisch rumpoltern, auch eine unterdrückte Wut wirkt. Egal wie gut wir sie im Griff haben.
Was wirklich blöd daran ist: da geben wir uns alle Mühe und verwenden viel Energie darauf, von unserer Umgebung als nett und kontrolliert wahrgenommen zu werden und dann strömt es uns doch wie aus allen Poren. Und lässt die anderen genau das von uns denken, was wir ja eigentlich mit aller Kraft versuchen zu vermeiden. Wir werden so wahrgenommen, wie wir nicht wahrgenommen werden wollen. Also z. B. als aggressiver Mensch.
Daher ist wegschauen und vermeiden langfristig keine gute Lösung. Um nicht zu werden wie unsere Eltern müssen wir daher nicht weg-, sondern bewusst hinschauen. Wir müssen erst einmal verstehen, wie genau wir nicht werden wollen. Und warum. Dann können wir uns lösen und müssen nicht länger versuchen, das Unvermeidliche zu vermeiden. Dann sind wir frei.
Hinschauen hat jede Menge Vorteile
Und dieses Hinschauen hat gleich mehrere Vorteile, wie du gleich sehen wirst.
Denn eins ist leider wahr: Je mehr wir versuchen NICHT so zu werden wie unsere Eltern, um so ähnlicher werden wir ihnen. Denn umso weniger kommen wir von ihnen los.
Aber warum ist das so?
Damit wir abgleichen können, ob und wenn wie ähnlich wir ihm oder ihr gerade sind, müssen wir sie uns wie in der Nähe halten. Wir müssen dafür das innere Bild permanent abrufbar halten, um schnell diesen Check, diesen Abgleich machen zu können.
Wir überprüfen dann anhand eines alten inneren Bildes, ob das was wir da gerade sagen oder/und tun wollen, dem selbst erlebten ähnlich oder unähnlich ist. Ähnlich wird versucht zu unterdrücken, unähnlich wird bevorzugt.
Die daraus entstandene Strategie lautet also: „Ich will … ich werde … es anders machen!“
Zugang zu einer authentischen Reaktion
Diese Strategie hat nur einen Haken: sie verunmöglicht den Zugang zu einer eigenen authentischen Reaktion.
Lass das bitte gerade einmal kurz auf dich wirken.
Diese Strategie verunmöglicht den Zugang zu einer eigenen authentischen Reaktion.
Bei genauerem Hinschauen ist das komplett logisch.
Wenn das Hauptaugenmerk darauf liegt, es nicht zu machen wie unsere Eltern, können wir nicht herausfinden, was unsere authentische Reaktion wäre. Wir sind zu sehr darauf bedacht, es nicht zu machen wie sie und so ersticken wir jeden Impuls, der in die alte Richtung gehen könnte, gleich mal im Keim. Egal ob er eigentlich stimmig, angemessen und richtig wäre.
Hätte Papa so gemacht, also mach ich es nicht.
Hätte Mama so gesagt, also sag ich nix.
Ablösung und Loslösung kann so aber nicht gelingen
Und das macht unzufrieden. Denn irgendetwas in uns fühlt sich unfrei an. Und ist es ja auch.
Anstelle dem Kollegen, der einem gerade unangemessen über den Mund gefahren ist, angemessen in seine Schranken zu weisen, schweigt man. Man will ja schließlich nicht als unfreundlich wahrgenommen werden.
Anstelle dem Kind, dass einem gerade grenzenaustestend auf der Nase rumtanzt eine klare Grenze zu setzen, versucht man es mit reden … erklären … hoffend, dass das Kind es versteht. Und es lässt. (Übrigens ein Phänomen, dass ich zurzeit bei vielen jungen Eltern beobachte. Da wird geredet und erklärt … und geredet und erklärt … als ob sie es mit einem Erwachsenen zu tun hätten.) Oder droht. Nur meistens ohne die Drohung dann auch konsequent umzusetzen. Man will ja schließlich von dem Kind geliebt werden.
Anstelle im Gespräch Stellung zu beziehen und zu sagen, dass man anderer Meinung ist, schweigt man. Man will ja schließlich nicht als Schwätzer oder Klugscheißer wahrgenommen werden.
Dabei wäre da durchaus der innere Impuls auf den Tisch zu hauen … da wäre durchaus der Impuls dem Gegenüber zu sagen, dass es gerade Bullshit erzählt … und da wäre der Impuls, das Kind in seine oder ihre Grenzen zu weisen.
Nur tun wir es nicht. Weil wir viel zu sehr darauf achten, NICHT zu werden wie unsere Eltern. Die hätten das getan, aber ich doch nicht!
Ich löse das anders. Ich mache es besser.
Und dabei verpassen wir, wie wir es machen wollen würden, wenn wir es uns nur erlauben können täten.
Daher macht es Sinn sich Zwei Fragen zu stellen:
Was würde ich wenn alles erlaubt und möglich wäre jetzt am liebsten tun?
Und lass die Frage ein bisschen auf dich wirken bevor du zu Frage 2 kommst. Beobachte, was da in dir passiert. Mal dir aus wie es wäre zu tun was dein Impuls dir sagt. Was spürst du im Körper? Was siehst du vor deinem inneren Auge? Ist es ein bewegtes Bild? Ist es bunt? Sind da Geräusche? Sind da Bewegungsimpulse in deinem Körper? Will die Faust sich ballen? Zuckt es in den Füßen oder Beinen?
Nimm dir ein paar Atemzüge Zeit hier ausgiebig reinzuspüren und deinen Impuls wahrzunehmen. Und dann stell dir die 2. Frage:
Warum mache ich es nicht?
Und auch hier: lass auch diese 2. Frage ebenfalls ein bisschen wirken. Spür ihr nach. Beobachte deinen Körper … deine Gedanken … sackst du vielleicht ein bisschen zusammen … oder wird es eher fester, vielleicht sogar starrer im Körper …
Nimm all das einfach nur ein paar Atemzüge lang wahr. Und dann stell dir die 1. Frage noch einmal:
Was würde ich wenn alles erlaubt und möglich wäre jetzt am liebsten tun?
Wie ist es jetzt sich diese Frage zu stellen? Lebendiger oder ist sie wie weiter weg gerückt?
Was auch immer du gerade erlebst, alles ist genauso gut und richtig. Beim Erforschen unserer alten Bindungsmuster – und genau das tun wir hier gerade – gibt es kein richtig oder falsch. Hier existiert so etwas nicht. Es geht einzig und allein ums hinschauen … ums endlich hinschauen. Endlich nicht mehr das alte irgendwann einmal in einem völlig anderen Kontext gelernte Verhalten automatisch abzuspulen.
Wieder Zugang zu den eigenen Impulsen
Es geht darum wieder eine Idee … einen Zugang zu den eigenen Impulsen zu bekommen. Um authentisch reagieren und agieren zu können. Es geht darum, dem Leben in unserer ureigensten Art begegnen zu können. Ja, vielleicht machen wir es dann manchmal ein bisschen wie Papa … oder Mama … Ja. Das kann und wird passieren.
Aber wenn wir es wirklich authentisch machen, kann es immer nur ein bisschen so sein, wie sie es gemacht haben.
Ich für meinen Teil muss heute immer ein bisschen schmunzeln, wenn ich etwas so mache wie mein Vater oder meine Mutter es gemacht hätte. Ich schaue dann zum Himmel und schick ihnen, wo auch immer sie mittlerweile sind ein liebevolles: „Tja, ich bin halt eure Tochter!“ und manchmal habe ich das Gefühl ein liebevolles Nicken zurückzubekommen.