Menschen, bei denen die Gedanken ohne Unterlass kreisen, haben Redebedarf. Denn sie meinen: wenn ich mit jemandem drüber rede, geht es mir danach besser. Es gibt ja auch den Spruch “Sich etwas von der Seele zu reden”. Nur ist das ein Irrglaube, der sich leider hartnäckig hält.
So sehr der Wunsch, aus diesem Schlafraubenden Kreislauf der Gedanken endlich auszusteigen auf der eine Seite durchweg verständlich ist, genauso weiß man heute aus Erkenntnissen der Neurobiologie und Traumaforschung: es anderen erzählen und dann ist gut funktioniert nicht. Hier ist reden nicht hilfreich.
Warum es nicht funktioniert … warum drüber reden nicht hilfreich ist … darum geht es im heutigen Podcast.
Und es geht darum, was in solchen Momenten wirklich hilft. Und wie du dieses Wissen in Zukunft für dich und andere nutzen kannst.
Der Druck wird mehr. Nicht weniger.
Vielleicht ist dir folgendes Phänomen schon einmal bei dir selbst aufgefallen: man fängt an mit jemandem über ein emotional schwieriges Thema zu sprechen und es dauert nicht lange und man bemerkt: der innerliche Druck wird mit dem Reden nicht weniger, er wird mehr.
Klingt irgendwie paradox … denn da will man über etwas belastendes Reden um es los zu werden … und dann wird es dadurch nicht weniger, sondern sogar noch mehr. Ich muss dann immer an Popcorn denken … denn wie bei einer Popcornmaschine ploppen immer mehr Details auf und kugeln kreuz und quer übereinander.
Aber warum ist das so?
Um das ein bisschen besser zu verstehen, macht es Sinn, einen Blick auf die Dynamiken in unserem Nervensystem zu werfen. Und hier auf das Wechselspiel von Sympathikus, also dem Gaspedal unseres Nervensystems und Parasympathikus, dem Bremspedal unseres Nervensystems.
Jedes uns herausfordernde Ereignis aktiviert zunächst einmal unseren Sympathikus. Und hier ist es egal ob es ein körperlich oder ein emotional herausforderndes Ereignis ist.
Wir versuchen an der Straße einzuparken, während sich hinter uns eine hupende Schlange bildet … oder wir sehen im Display einen Namen, den wir da gerade eigentlich nicht sehen wollen … oder wir sind gerade mit dem Fahrrad gestürzt. Die erste Reaktion unseres Körpers ist … hochfahren … mobilisieren … orientieren … herausfinden, wo genau die Gefahr lauert. Unser ganzes System ist dann in Alarmbereitschaft. Alle Sinne sind hellwach … in uns geht alles extrem schnell … die Muskeln sind angespannt … der Druck steigt.
Ist das herausfordernde Ereignis wieder vorbei, steht also z. B. das Auto nach einem eleganten Einparkmanöver gut in der Parklücke und der Verkehr kann wieder fließen, übernimmt der Parasympathikus, also das Bremspedal unseres Nervensystems. Dann schnaufen wir kurz durch, grinsen uns im Rückspiegel vielleicht selbst kurz anerkennend für unser fahrerisches Können an und gehen beschwingt dahin wo wir hin wollen. Das Wechselspiel von Gaspedal und Bremspedal hat funktioniert, das Leben ist im Flow. Uns geht’s gut.
Haben unsere Einparkversuche jedoch nicht zu Flow, sondern im Gegenteil zu Stress geführt, sieht die Welt ganz anders aus, dann erleben wir uns und die Welt komplett anders. Wollte es auch beim dritten Versuch mit dem eleganten Einparkmanöver einfach nicht klappen … meinte vielleicht jemand in der Warteschlange unterstützend lautstark auf die Hupe drücken zu müssen … haben wir vielleicht sogar aufgegeben und sind eine weitere ¼ Stunde um den Block gekreist … sind dadurch dann auch noch in Zeitdruck gekommen … ist unser Sympathikus am Anschlag.
Wir sind aufgewühlt … nervös … gestresst … sind sauer … auf uns … auf den Huper oder die Huperin … wir regen uns auf … die Ohren rauschen … wir haben das Gefühl gleich zu platzen. Die Energie staut sich in uns. Und diese ganze Energie MUSS irgendwo hin.
Das Gedankenkreisen beginnt
Manche richten sie nach Innen, also gegen sich selbst und der sogenannte Innere Kritiker übernimmt lautstark und ungeniert. Das Gedankenkreisen beginnt. Einagieren nennt man das. Wieder andere richten die Energie nach Außen und fahren den nächstbesten der ihnen über den Weg läuft an. Das nennt man dann Ausagieren. Meistens dicht gefolgt von der Stimme des Inneren Kritikers, der lautstark und ungeniert seinen Senf zu dem Anschnauzer gibt. Und dann beginnt hier das Gedankenkreisen.
Du wunderst dich jetzt vielleicht, dass ich ein so alltägliches Beispiel wie das Einparken gewählt habe. Und damit dann auch noch ein Thema, das ja überwiegend Frauen zugeordnet wird. Denn angeblich können Männer das ja so viel besser als Frauen.
Die Alltäglichkeit dieses Phänomens
Ich habe genau dieses Beispiel sehr bewusst gewählt, um die Alltäglichkeit dieses Phänomens aufzuzeigen. Und um dich neugierig darauf zu machen, wie du diese Dynamik in dir erlebst.
Denn vielen ist nicht bewusst, dass sie gerade munter entweder ein- oder ausagieren. Oder beides im ebenso munteren Wechsel tun.
Nimm dir gerade einen Moment Zeit und überleg, wie du mit so einer Einparksituation unter erschwerten Bedingungen umgehen würdest. Würdest du eher zum einagieren neigen? Also wärst du sauer auf dich selbst? Oder würdest du eher zum ausagieren neigen? Also dich über irgendwen da draußen aufregen?
Einagieren oder Ausagieren?
Neigen wir eher zum Ausagieren, wird dann geschimpft auf den oder die da gehupt hat … da wird geschimpft auf die Deppen, die nicht parken können weil sonst wäre die Lücke größer gewesen … da kann es sogar sein, dass die Städteplaner ihr Fett abbekommen … und unter all den Worten brodelt es innerlich weiter …
Wer hier eher zum Einagieren neigt, wird sich kleinlaut für die Verspätung entschuldigen … das eigene Bemühen in den Vordergrund stellen … versichern, dass man wirklich rechtzeitig losgefahren ist … oder schweigen und das eben Erlebte in sich mit sich selbst ausmachen … und in all dem innerlich weiterschmurgeln …
Diese beide Verhaltensweise haben zwei Sachen gemeinsam:
Erstens: In beiden Fällen kreisen die Gedanken um ein hätte … wenn … und aber …
„Hätte ich …“ denken die, die zum Einagieren neigen. „Hätten die anderen …“ denken die Ausagierer.
Und 2.: Es sind beides Strategien.
Gedankenkreisen ist eine Strategie
Und zwar Strategien, die wir irgendwann einmal gelernt haben … lernen mussten, um mit einem aufwühlenden Ereignis umgehen zu können. Diese Strategien sind die heutige Wiederholung eines Verhaltens, das irgendwann in der Vergangenheit einmal in einer ähnlichen Situation hilfreich hat.
Und daher funktionieren sie heute meistens auch nicht mehr, denn sie stammen aus einer ganz anderen Zeit … meist aus der frühen Kindheit … und sind in ganz anderen Kontexten entstanden.
Was meine ich damit?
Haben wir z. B. in der Kindheit etwas Kniffliges ausprobiert und wurden dabei beschämt … ausgelacht … korrigiert … für zu blöd erklärt … als zu ungeschickt bezeichnet … wurde es uns vielleicht weggenommen um es schneller selber zu machen, hat unser Gehirn sich diese Kombi gemerkt. Und jedes Mal, wenn wir dann später wieder etwas Kniffliges ausprobieren, also z. B. unter erschwerten Bedingungen einparken, ist das, als ob wir an einer Perlenkette ziehen und dabei die alten Emotionen und Empfindungen mit hochziehen.
Also die Befürchtung gleich erneut … beschämt … ausgelacht … korrigiert … für zu blöd erklärt … als zu ungeschickt bezeichnet oder was auch immer zu werden.
All das passiert in dem Moment, wo wir erkennen, dass die Parklücke recht knapp ist … wo uns bewusst wird, dass wir nun für eine Weile den Verkehr notgedrungen blockieren werden … wo klar ist, dass wir uns verspäten werden, wenn wir diese Parklücke jetzt nicht nehmen und nochmal um den Block kreisen müssen … all das löst dieser Moment dann wieder in Bruchteilen von Sekunden in uns aus. Und ist uns meistens komplett nicht bewusst. Wir bekommen nur die enge Parklücke und den hupenden Deppen mit der uns zusätzlich stresst. Und sind der Meinung, der hupende Depp ist Schuld an unserem inneren Stress.
Reden wir dann nur über diese Momente und über den hupenden Deppen, bleiben wir auf der Sachebene und auf der Verhaltensebene. Dann beschreiben wir nur WAS passiert ist und welche Strategie wir gewählt haben, um mit der Situation umzugehen.
WAS und WIE vs. WOFÜR
Anders ausgedrückt: nur darüber reden adressiert nur das WAS und das WIE. Nicht aber die Frage, WOFÜR unser System all die Energie mobilisiert.
Würden wir innerlich den Film zurückspulen und in Slow motion abspielen, würden wir erstaunliches entdecken. Über uns selbst … über unsere Art uns in der Welt zu bewegen … über unsere Erwartungen an die Welt, die uns umgibt.
Und dieses den Film zurückspulen und die Slow Motion-Variante gemeinsam dekonstruieren ist das, was ich mit meinen Klienten mache.
Dann nutze ich die Geschichte wie eine Art Eingangstür um vom Bewussten und Offensichtlichen, also dem … WAS ist passiert? … zum Unbewussten zu gelangen. Denn jedes uns aufwühlenden Ereignis ist eine Möglichkeit, um mehr über uns selbst zu erfahren.
Es geht dann nicht mehr um das Ereignis an sich. Das ist nur ein Mittel zum Zweck … das ist nur ein Start- … ein Ausgangspunkt für eine Forschungsreise. Ein zentralen Satz über Trauma ist:
Trauma ist im Körper. Nicht im Ereignis.
Das kann man auch übersetzen in:
Stress ist im Körper. Nicht im Ereignis.
Daher macht es keinen Sinn, das Ereignis und die gewählten Strategien in epischer Breite zu besprechen. Daher macht es keinerlei Sinn an der Verhaltensebene rumzufeilen. Und daher macht es nicht nur keinen Sinn, sondern sogar zusätzlich noch wütend, wenn man als Betroffene oder Betroffener hier Verhaltenstipps bekommt. Dann beginnt eine beide Gesprächspartner zermürbende Ja, aber …-Schleife.
Hier KANN nicht Neues entstehen. Auf dieser Ebene werden wir keine Erleichterung finden. Denn das Ereignis ist rum … es ist Vergangenheit. Das was aber immer noch da ist, ist unsere innere Reaktion auf das Ereignis.
Versteht man also das Ereignis als Eingangstür zu etwas Tieferem … zu etwas Grundlegenderem … und steigt aus der Wiedergabe von Fakten und Suche nach einer anderen Lösung dieser Situation aus, bemerkt man vor allem eins: es wird innerlich schlagartig ruhiger.
Denn dann kann man den Zusammenhang erkennen, dass man z. B. Angst hatte unter der Beobachtung der anderen Verkehrsteilnehmer an der kniffligen Aufgabe des Einparkens in eine enge Parklücke zu scheitern. Dann kann man erkennen, dass diese Angst im Kern die Angst vor einer erneuten Beschämung ist und man kann erkennen, dass das Hupen diese Angst zusätzlich getriggert hat.
Und hat man erst einmal erkannt, dass es – um in unserem Beispiel zu bleiben – nicht der ungeduldig hupende Depp hinter uns ist, der uns in Wallung bringt, sondern die Erinnerung an eine alte Beschämung als jemand anders seine oder ihre Ungeduld nicht im Griff hatte, ist das ein erster Schritt in Richtung persönliche Freiheit.
Und wie schafft man diesen Wechsel?
Indem man die Ebene wechselt.
Frag dich – oder dein Gegenüber mit Redebedarf – in solchen Momenten dafür folgende Frage:
Wenn die ganze Energie, die da gerade in dir ist alles tun dürfte, was würde sie dann tun?
Und in dem Fall heißt „alles“ auch alles. Also keinerlei Einschränkungen.
Und stell dir oder deinem Gegenüber diese Fragen mehrfach. Mindestens 3 x – maximal 5 x ist ideal. Das ist dann wie Zwiebel schälen und man geht Schritt für Schritt weg von der alten Strategie und kommt dem, um was es wirklich geht … dem wofür unser System all die Energie mobilisiert ein bisschen näher.
Wichtig ist die Frage unverändert mehrmals zu stellen, denn wir alle tragen irgendwelche alten Verbote, irgendwelche Tabus in uns. Und durch die wiederholende Einladung, dass die Energie hier und jetzt mal alles darf, überlisten wir diesen alten Blockaden ein wenig und alte, lange verbotene Impulse können wieder zum Vorschein kommen.
Hier noch einmal diese scheinbar so simple Frage:
Wenn die ganze Energie, die da gerade in dir ist alles tun dürfte, was würde sie dann tun? Was würde diese Energie tun, wenn alles erlaubt wäre?
Nimm dir gerade einen Moment Zeit das in dir wirken zu lassen. Was nimmst du wahr? Wie geht es dir?
Bei vielen meiner Klienten löst alleine das Nachdenken über diese Frage spontan ein tiefes Durchatmen aus. Andere kommen wie aus einer Starre raus und ich kann Bewegungsimpulse beobachten. Lass dich überraschen, wie dein System auf die Frage reagiert. Und es wäre toll, wenn du deine Beobachtung in die Kommentare schreiben würdest.