Warum du diese 3 Traumaarten und ein bisschen Neurobiologie kennen solltest (Podcast #8)

Wenn mich jemand fragt, was ich beruflich mache und wir plaudern eine Weile kommt fast immer irgendwann die Aussage: „Dann hab ich ja auch ein Trauma!?!?!“

Meine Antwort darauf ist: „Ja. Hast Du! Und sehr wahrscheinlich nicht nur eins …“

Mir ist bewusst, dass ich mich mit dieser sehr deutlichen Antwort nicht sonderlich beliebt mache. Und ich habe auch schon mehr als einmal erlebt, dass mein Gegenüber sich sehr vehement dagegen gewehrt hat, in diesen Topf geworfen zu werden.

Da ich weiß, dass das Thema Trauma in seiner Komplexität so vielen noch sehr fremd ist, werde ich jetzt ein wenig ausholen, um zu erklären, wie ich zu meinem so klaren „Ja, wie sind alle traumatisiert.“ komme.

Zunächst einmal ist es wichtig, hier ein paar Basics und wichtige Unterscheidungen zu erklären, um eine Gesprächsgrundlage zu schaffen. Ein Basic ist:

Es gibt unterschiedliche Traumarten.

Ich beziehe mich heute auf die Drei wichtigsten und zwar auf Schock-, Bindungs- und Entwicklungstraumata.

Schocktrauma

Die Traumaart, die den meisten ein Begriff ist, ist das Schocktrauma.

Ein Schocktrauma – oder auch akutes Trauma genannt -, wird durch ein plötzliches, überwältigendes Ereignis ausgelöst, das eine extreme körperliche oder emotionale Reaktion hervorruft. Es führt oft zu Gefühlen der Ohnmacht, des Schocks und des Kontrollverlustes.

Typische Auslöser können jede Form von Unfällen, Stürzen, Naturkatastrophen oder ein plötzlicher Verlust sein.

Alles was einmalig passiert und uns überwältigt, fällt in diese Rubrik.

Bindungstrauma

Bei der nächsten Traumaart geht es ums Thema Bindung, also die Verbindung zwischen einem Kind und der primären Bezugsperson (z. B. den Eltern).

Wird eine sichere, emotionale Verbindung zwischen einem Kind und einer primären Bezugsperson (z. B. Eltern) häufig gestört oder verletzt, spricht man von Bindungstrauma. Wichtig ist hier der Zusatz „häufig“, denn wie der Volksmund so schön sagt, eine Schwalbe macht noch keinen Frühling. Und so macht ein Bindungsdrama nicht gleich ein Bindungstrauma.

Und hier ist gleichzeitig Vorsicht geboten. Denn wann es kippt, ist individuell und komplex. „War ja nicht so schlimm.“ mag aus Sicht eines Erwachsenen wahr sein. Aus Sicht eines Kindes sieht die Welt deutlich anders aus. Hier braucht es Bezugspersonen, die die persönliche Reife haben, diesen schmalen Grad gut zu halten.

Per Definition kann Bindungstrauma durch Vernachlässigung, das Fehlen von stabiler Fürsorge in der frühen Kindheit, körperlichen und – das ist jetzt wichtig – emotionalen Missbrauch verursacht werden und führt oft zu Problemen in der Beziehungsfähigkeit und emotionalen Regulierung im späteren Leben.

Auf das Thema emotionaler Missbrauch gehe ich gleich noch ein bisschen tiefer ein und werde hierzu noch eigene Podcasts machen. Denn gerade im Missverständnis dieser Dynamik liegen ganze Heerscharen von Hasen im Pfeffer. Die Folgen von emotionalem Missbrauch sind die in meinen Augen am meisten unterschätzte, weil unverstandene Wurzel einer Vielzahl der Probleme, die wir heute in der Welt sehen.

Aber dazu gleich mehr. Jetzt erst einmal noch kurz weiter mit den Basics.

Entwicklungstrauma

Denn es ist noch wichtig, den Begriff Entwicklungstrauma zu kennen oder zumindest mal gehört zu haben.

Ein Entwicklungstrauma entsteht durch belastende Erfahrungen in der frühen Kindheit, wie Missbrauch, Vernachlässigung oder instabile Lebensumstände. Diese Traumata beeinträchtigen die gesunde emotionale, psychische und körperliche … Entwicklung … eines Kindes und können langfristig zu Schwierigkeiten in Beziehungen, Stressbewältigung, Gesundheit und emotionaler Regulation führen.

Vielleicht fragst Du dich jetzt:

Was ist denn hier der Unterschied?

Der Unterschied zwischen Bindungstrauma und Entwicklungstrauma liegt in den spezifischen Ursachen und den Auswirkungen auf die emotionale und psychologische Entwicklung des Kindes, obwohl sie sich in vielerlei Hinsicht überschneiden können und auch sehr oft zusammen auftreten.

Der Hauptunterschied betrifft den Zeitpunkt der Entstehung:

Bindungstrauma konzentriert sich eher auf die sehr frühe Kindheit, in der die Bindungen zu Bezugspersonen von zentraler Bedeutung sind.

Entwicklungstraumata können während der gesamten Kindheit auftreten und die fortlaufende Entwicklung nachhaltig beeinträchtigen.

Und noch ein bisschen genauer hingeschaut, kann man es so differenzieren:

Das Kind entwickelt als Folge von Bindungstrauma Schwierigkeiten, sichere Bindungen aufzubauen. Es kann ängstlich, vermeidend oder unsicher in Beziehungen werden, was oft zu Problemen im späteren Leben führt, insbesondere in engen zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Vertrauen in andere Menschen und das Gefühl von emotionaler Sicherheit können stark beeinträchtigt sein.

Der Fokus liegt hier also auf den Beziehungsstörungen und der fehlenden emotionalen Sicherheit in den frühen Bindungen.

Entwicklungstrauma bezieht sich breiter auf jegliche Art von traumatischen Erfahrungen, die in der Kindheit auftreten und die gesunde emotionale, psychische und körperliche Entwicklung beeinträchtigen.

Entwicklungstrauma wirkt sich auf die allgemeine psychologische und physische Entwicklung des Kindes aus. Betroffene Kinder haben oft Schwierigkeiten mit der Selbstregulation, der Impulskontrolle, dem Aufbau von Vertrauen und der Bewältigung von Stress. Sie entwickeln möglicherweise Verhaltensprobleme, Lernschwierigkeiten oder emotionale Instabilität.

So viel zur Theorie und ein paar Basics.

Nimm dir gerade einen Moment Zeit, die Infos kurz zu verdauen. … Und ein paar Mal tief durchzuatmen.

Vielleicht ahnst du nun schon, warum auf die Aussage: „Dann hab ich ja auch ein Trauma!?!?!“ meine Antwort „Ja. Hast Du! Und sehr wahrscheinlich nicht nur eins …“ ist.

Vermischung von Traumaarten

Alleine die Kategorie Schocktrauma, also Unfälle und Stürze, hat kaum jemand ausgelassen. Und wie ich schon in meinem Podcast Nr. 5: „Warum ist die Zeit NACH einem traumatischen Erlebnis so entscheidend?“ beschrieben habe, ist es bei einem Schocktrauma so wichtig, wie es danach weitergeht. Und hier kommt das Thema Bindung ins Spiel. Hier können sich die Traumarten vermischen.

Wie das?

Hierzu mag ich Dir eine Geschichte erzählen, die ich vor einiger Zeit in einem Restaurant erlebt habe. Am Nachbartisch saß eine Familie und die Kinder waren zum Spielen in den Innenhof gegangen. Auf einmal kam die Tochter, sie wird so 5 Jahre alt gewesen sein, heftigst weinend zurück zum Tisch. Aus dem Gemisch aus unverständlichen Worten und weinen war nicht zu erkennen, was vorgefallen war.

Der Vater nahm sein Tochter auf den Schoß und machte keinerlei Anstalten irgendetwas zu tun. Er versuchte nicht zu verstehen … er versuchte nicht zu beruhigen … er war einfach nur da. Und wartete. Wartete darauf, dass diese riesen Welle ein wenig abebbte. Als dem so war, fragte er vorsichtig nach, was denn so Schlimmes passiert sei. Gleich brodelte die Welle wieder hoch … die Worte vermischten sich wieder mit Tränen … und der Vater wartete wieder. Nachdem 2-3 Wellen geduldig durchlaufen konnten, war das Kind in der Lage zu erzählen, was im Innenhof passiert ist. Die Kleine war mit ihrem Roller blöd gefallen.

Nun kam auch die Mutter mit ins Spiel. Sie stand auf, ging in den Innenhof um die Lage zu checken während der Vater weiterhin völlig unaufgeregt das Kind beruhigte. Die Mutter kam zurück, signalisierte dem Vater mit Daumen nach Oben, dass alles in Ordnung ist und setze sich wieder hin. Nach einer Weile hatte die Kleine sich wieder beruhigt und zusammen mit Papa ging sie zurück in den Innenhof um weiter zu spielen. Papa kam dann irgendwann alleine zurück und die Eltern setzten ihr Gespräch fort.

Dieses Erlebnis wird in dem Kind höchstwahrscheinlich keinerlei Spuren hinterlassen. Es ist was passiert … Papa war da … hat angemessen reagiert … das kleine System konnte sich wieder beruhigen … und weiter geht’s.

Ein Drama ohne Trauma

Mir geht immer das Herz auf, wenn ich so etwas beobachten darf. Denn es braucht eigentlich so wenig.

Nur leider reagieren viele aus der eigenen Überforderung heraus unangemessen – und merken es nicht einmal.

Da wird dann auf das Kind eingeredet … da soll das Kind in Ruhe erklären was los ist … und wenn es das nicht kann, kommt Ungeduld … wird das Kind beschämt … und vielleicht sogar bestraft für seine Unachtsamkeit …

Hier sorgen die Bezugspersonen erst einmal unbewusst für ihre eigenen Bedürfnisse anstelle für die Bedürfnisse des Kindes.

Um ihre eigenen Nerven zu beruhigen, wollen sie erst einmal verstehen was passiert ist.

Und merken nicht was das Kind gerade braucht.

Narzissmus

Sie sind unbewusst mit sich selbst verbunden und haben dabei keinerlei Verbindung zum Kind. Das Kind ist in seinem Schmerz und seiner Not komplett alleine. Und soll sogar noch das Bedürfnis des Erwachsenen befriedigen und erklären was passiert ist.

Das Kind erlebt die Verbindung zu den Bezugspersonen als nicht hilfreich, als nicht stabil. Es muss seine eigene Lösung in diesem Moment finden. Und das ist Bindungsstörend. Nicht Bindungsfördernd.

Denn Fakt ist: Niemand kann in so einem Moment verständlich erklären, was passiert ist. NIEMAND. Und ein Kind schon gar nicht.

Ich habe hier schon erlebt, wie eine Mutter zu ihrem 3jährigen Sohn sagte: „Tja, wenn du mir nicht erklären kannst, was passiert ist, kann ich dir nicht helfen.“

In solchen Momenten wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass die Basics der Neurobiologie zum Allgemeinwissen gehören.

Basics der Neurobiologie als Teil des Allgemeinwissen

Denn dann wüsste diese Mutter, dass ein menschliches Gehirn das überhaupt nicht kann. Wenn das Limbische System, also der Sitz unserer Emotionen und das Stammhirn, der Sitz unserer Empfindungen hoch aktiv sind, lähmt das den Neokortex, also den rationalen Verstand, da wo die Worte herkommen. 

Dann wüsste diese Mutter, dass das Limbische System und das Stammhirn Zeit und ruhigen Körperkontakt brauchen um sich zu beruhigen. Und dann, aber erst dann, können – je nach Alter – Worte für das Erlebte gefunden werden.

Solche Beispiele sind es, die mich darin bestärken, dass die Welt mehr Trauma Informierte Menschen braucht.

Denn es braucht wirklich nicht viel. Nur halt das richtige.

Und hier liefert uns die Natur eine perfekte Checkliste. Denn wenn wir die Prinzipien des Nervensystems kennen und anwenden können, muss aus einem Drama kein Trauma werden. Dann können solche Erlebnisse sogar eine sichere Bindung verstärken. Dann geben wir unseren Kindern genau das Rüstzeug an die Hand, dass sie brauchen um in dieser schnellen und komplexen Welt später gut zurecht zu kommen.

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