Gestern hat mir das Leben mal wieder eine Steilvorlage für ein Podcastthema geliefert und die nutze ich natürlich sofort.
Ich hatte einen nun ehemaligen Kooperationspartner um ein Gespräch gebeten, denn es gab Klärungsbedarf meinerseits. An der Bezeichnung „nun ehemalig“ erkennst du schon ein wenig, wie das Gespräch ausging, aber darum geht es heute nicht. Vielmehr geht es um die Frage:
Wie viel Verspätung ist noch okay?
Ein komplexes Thema. Ich weiß. Und ich starte mal damit, wie ich damit umgehe. Denn das ist recht einfach. Ich habe mir den Satz „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andren zu“ in vielen meiner Lebensbereiche zur Grundlage gemacht und da ich nicht gerne warte, lasse andere nicht auf mich warten.
Für mich hat Pünktlichkeit etwas mit Wertschätzung zu tun. Und zwar mit der Wertschätzung, dass meine Lebenszeit genauso viel wert ist, wie die Lebenszeit des oder der anderen. Hinzu kommt, dass es im Zeitalter von Handys keine Raketenwissenschaft mehr ist, schnell mal Bescheid zu sagen. Für mich ist Pünktlichkeit ein hoher Wert und mir daher wichtig. Und ja, mir ist durchaus bewusst, dass einem das Leben auch mal einen Strich durch die Terminplanung machen kann. Daher gehöre ich nicht zu der rigiden Fraktion, die schon nach ein paar Minuten Verspätung weg ist. Ich kenn solche „Erzieher“ und mag die Strategie genauso wenig, wie ich Zuspätkommer mag.
Und daher war ich pünktlich um 14:00 Uhr im Wartezimmer seines Zoomraums. Und nichts tat sich. Um 14:10 Uhr habe ich ihn dann angerufen und bin auf der Mailbox gelandet. Gerade als ich meinen Laptop zuklappen wollte, sah ich, dass er mir eine WhatsApp schrieb. Er brauche noch 8 Minuten und sei gleich Zuhause … Um 14:22 Uhr war er dann Online.
Pendelbewegungen
Ich hatte also 22 Minuten Zeit meinen inneren Dialogen zu lauschen und meine inneren Dynamiken zu beobachten. Und glaub mir, in mir war jede Menge los.
Mein inneres Pendel schwanke zwischen diversen größtenteils unnetten Gedanken, Emotionen und inneren Zuständen und ich musste aufpassen, mich in nichts davon reinzusteigern um möglichst neutral in das Gespräch gehen zu können.
Und auf diese Pendelbewegung möchte ich heute genauer eingehen.
Was ist es, was unseren inneren Dialog immer intensiver werden lässt je länger wir warten müssen?
Wartest du gerne?
Lass uns dieses wie gesagt komplexe Thema mit der Frage anfangen: wie geht es dir damit, wenn du warten musst? Ist die akademische Viertelstunde für dich kein Thema? Dann machst du in der Zeit halt was anderes? Oder bist du wie ich und du wartest nicht gerne?
Es ist gut zu wissen, wie wir hier ticken und nach welchen Kriterien. Wann sind wir toleranter? Wann fällt es uns leichter Fünfe gerade sein zu lassen? Und wann geht uns schon nach 2 Minuten der Puls hoch?
In meinem Fall war ich schon um 13:50 Uhr dünnhäutig, denn wir haben schon eine Weile Sand im Getriebe und der will schon seit einer Weile nicht so recht weichen. Also wusste ich, das gleich wird keine nette, produktive Plauderei, sondern kann haarig werden. Heißt: ich war eh schon angespannt.
Und hier mag ich einen kleinen Ausflug in die Neurobiologie machen und das Thema des persönlichen Resilienzbereiches mit reinnehmen.
Was versteht man unter Resilienzbereich?
Resilienz bedeutet Anpassungsfähigkeit und beschreibt die Kapazität und Geschwindigkeit einer Person auf Probleme und Veränderungen mit einer stimmigen und angemessenen Anpassung ihres Verhaltens reagieren können.
Oder sehr vereinfacht ausgedrückt: wie schnell viel zu viel und es reißt einem die Hutschnur?
Und hier kommt das Thema Trauma ins Spiel: erlebtes Trauma verkleinert unseren Resilienzbereich sehr und nimmt ihm die Flexibilität. Dann ist die Fliege an der Wand nicht mehr nur am Ende eines anstrengenden Tages in Lebensgefahr, sie ist es irgendwie immer. Jedes noch so kleine Mehr wird sehr schnell zu einem großen Zuviel. Und das ist vor allem eins: anstrengend. Was den Resilienzbereich zusätzlich belastet. Das ist einer der vielen als Traumafolge klassischen Teufelskreise.
Durch viele Jahre eigener Selbsterforschung habe ich meinen persönlichen Resilienzbereich nicht nur für mich, sondern auch für mein Umfeld spürbar, deutlich erweitert. Am Anfang meiner Reise hat es sich angefühlt, wie einen durch einen Unfall wochenlangen eingegipsten Muskel langsam wieder beweglich zu bekommen. Es brauchte Geduld, Konsequenz und ab und zu tat es auch weh.
Trauma & Resilienz
Denn genau das macht Trauma mit unserem Resilienzbereich: Es sperrt uns ein, macht uns eng, unbeweglich und unflexibel. Neuroaffektive Traumatherapie ist hier wie Krankengymnastik fürs Nervensystem. Man kommt achtsam und langsam raus aus dem alten Korsett, kann sich erst vorsichtig und mit der Zeit immer kraftvoller strecken und erobert sich lange eingesperrte Möglichkeiten wieder zurück. Und das alles im eigenen Rhythmus und dank einem eingestimmten Gegenüber ohne die Gefahr einer Retraumatisierung.
Als ich also meine 22 Minuten gewartet habe, kam mir mein eigener langer Heilungsprozess durchweg zugute. Ich hatte die Kapazität mich selbst zu beobachten, musste nichts verdrängen oder unterdrücken und konnte sogar Neues dabei entdecken. Als wir dann zu Zweit im Zoom war, konnte ich auf eine gute, respektvolle Art das Gespräch führen.
Früher wäre mir das so nicht möglich gewesen. Ich erinnere mich noch gut an ähnliche Situationen. Da war ich dermaßen aufgewühlt, dass ich mir mehr als einen schnippischen Kommentar nicht verkneifen konnte. Die mussten einfach raus, koste es was es wolle. Und danach war ich fix und fertig, das Gespräch ging mir noch unzählige Male durch den Kopf um mir dann noch Abends über die Bettdecke zu laufen und den Schlaf zu rauben.
Heute kann ich meinen Unmut angemessen und doch deutlich benennen und dann ist gut. ich muss nicht mehr nachtreten und nachtreten, muss nicht mehr Recht bekommen und der innere Stress steigt mir nicht mehr zu Kopf und vernebelt mir noch Stunden das Hirn.
Ja, das Gespräch war dennoch anstrengend und herausfordernd. Denn wer führt schon gerne schwierige Gespräche? Und ja, die Verspätung war sicherlich am Ergebnis mit beteiligt. Aber sie war nicht der Grund. Und auch das ist etwas, was ich an der Neuroaffektiven Arbeit so liebe: ich kann heute mit Komplexität umgehen und muss nicht polarisieren. Ich muss den anderen nicht verurteilen und klein machen um mich selbst gut und stark zu fühlen.